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Deichgrab

Deichgrab

Titel: Deichgrab
Autoren: authors_sort
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gewesen, dass er sich nicht hatte vorstellen können, dass es ihn nicht mehr gab, dass er nicht mehr für ihn da war, ihm nicht mehr zuhörte.
    Aber er war tot. Genauso tot wie Onkel Hannes jetzt. Das war der Grund, warum Tom nach all den Jahren hierher zurückgekehrt war.
    Einen Teil der Strecke war er mit dem Zug gefahren. Wie damals. Er hatte am Fenster gesessen und hinausgesehen. Aber von der vorüberfliegenden Landschaft hatte er nichts wahrgenommen, sondern versucht, sich an Onkel Hannes zu erinnern. Bilder seiner Kindheit waren vor seinem inneren Auge aufgetaucht und brachten Erinnerungen mit sich, die Tom längst vergessen glaubte.
    Ab Hamburg war er mit einem Mietwagen weitergefahren, zunächst die A 7 bis Flensburg und dann über die Bundesstraße. In Schafflund hatte er an einem Supermarkt angehalten, Brot, Käse und einen billigen Rotwein gekauft.
    Den Haustürschlüssel hatte er dort gefunden, wo er bereits früher für Notfälle versteckt gewesen war: an einem rostigen Nagel hinter dem verwitterten Vogelhäuschen an der alten Birke im Garten.
    Mit zitternden Händen hatte er die Haustür aufgeschlossen und war nach einem kurzen Moment des Zögerns eingetreten. Viele Jahre waren vergangen, seit er das letzte Mal hier gewesen war. Die Dunkelheit und der leicht modrige Geruch hatten ihn wie damals empfangen. Für einen kurzen Augenblick hatte er sich plötzlich klein und hilflos gefühlt. Der Druck aus seiner Magengegend hatte sich ausgebreitet. Eine halbe Ewigkeit war vergangen, bis er in der Lage gewesen war, die Tür hinter sich zu schließen. Durch den dunklen Flur war er in die Küche gegangen.
    Und dort saß er nun.
    Im Küchenschrank hatte er ein altes Weinglas gefunden. Ein Korkenzieher war nicht erforderlich gewesen. Der billige Rotwein hatte lediglich durch einen Schraubverschluss ›entkorkt‹ werden müssen. Das Brot und den Käse hatte er in kleine Stücke geschnitten und sich dann mit seiner kleinen Mahlzeit am Küchentisch niedergelassen.
    Seine Blicke wanderten durch den Raum. Alles sah genauso aus wie damals: die leicht vergilbten Gardinen, der fleckige Linoleumfußboden, die viel zu laut tickende Küchenuhr in Form eines Wandtellers. ›Merkwürdig‹, dachte er. Als er hier gewohnt hatte, war ihm nie aufgefallen, dass die Uhr ein Jubiläumsgeschenk des Deichbauamtes gewesen sein musste. Während er sie betrachtete, sah er zum ersten Mal, dass um das Bild einer blauen Riesenwelle mit kleinen verschnörkelten Buchstaben eine Art Glückwunsch geschrieben stand: ›Für jahrelange, treue Dienste‹ und ›Wir freuen uns auf viele weitere, erfolgreiche Jahre gegen den ›Blanken Hans‹ mit unserem Kollegen Hannes Friedrichsen‹.
    Tom kratzte sich am Hinterkopf. Er konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, dass und vor allem was Onkel Hannes damals gearbeitet hatte.
    Er trank einen Schluck vom Rotwein und dachte, dass er eigentlich so gut wie gar nichts von seinem Onkel wusste. Wer war er gewesen? Was hatte er erlebt? Wer waren seine Freunde gewesen? Wie war er gestorben?
    Onkel Hannes war tot, ihn konnte er nicht mehr fragen. Alles was Tom von ihm geblieben war, waren diese Briefe, die er in einem alten Schuhkarton auf dem Küchenschrank gefunden hatte. In ihnen hatte er seine Gefühle und Erlebnisse seinem einzigen Vertrauten mitgeteilt und nicht gewusst, dass Onkel Hannes sie verständlicherweise nie abgeschickt und sie stattdessen in diesem Schuhkarton gesammelt hatte.
    Der Rotwein und das monotone Ticken der Küchenuhr machten ihn schläfrig. Er schloss die Augen. ›Nur ganz kurz ausruhen‹, dachte er, doch dann übermannte ihn der Schlaf.

3
    »Verdamm’ mich noch mal!«, fluchte Broder Petersen, während er den Telefonhörer mit Wucht auf die Gabel des grünen Tastentelefons knallte. Klaus Nissen hatte gerade ihre wöchentliche Verabredung abgesagt und dies schon zum dritten Mal.
    Klaus war vor gut einem Jahr zu seiner Tochter nach Husum gezogen. Früher hatte er ebenfalls im Dorf gelebt, war aber, nachdem seine Frau gestorben war, zu seiner Tochter gezogen. Die Entfernung war nicht gerade gering, trotzdem besuchte Klaus Broder in der Regel einmal die Woche. Aber in letzter Zeit hatte der Freund immer häufiger abgesagt. Mal war es die Enkelin, die beaufsichtigt werden musste, ein anderes Mal lag er angeblich krank im Bett.
    Broder war wütend. Er griff nach seinem Gehstock und stemmte sich mühsam aus seinem Sessel. Mit langsamen Schritten humpelte er zur Zimmertür.
    »Frank!
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