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Deichgrab

Deichgrab

Titel: Deichgrab
Autoren: authors_sort
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Jacke geschnappt und bin ganz schnell hinter ihm her. Er ging die Dorfstraße entlang bis zu einer Gaststube, die auf einem Hügel lag. Die Fenster waren alle hell erleuchtet. Wie ein Indianer habe ich mich angeschlichen. Durch ein Seitenfenster, das durch einen Busch halb verdeckt war, konnte ich heimlich in die Gaststube blicken. Drinnen saßen mehrere Männer an verschiedenen Tischen. Ich war gespannt, an welchen Tisch, zu welchen Männern sich Onkel Hannes wohl setzen würde. Aber als er die Gaststube betrat, passierte etwas ganz Merkwürdiges. Alle Männer blickten auf Onkel Hannes, der in der Tür stand, und rutschten dann näher zueinander, steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. Onkel Hannes hat sich alleine an einen Tisch ganz hinten in der Gaststube gesetzt. Der Wirt brachte ihm ein Bier und er saß dort und starrte in sein Glas.
    Da bin ich wieder nach Hause gegangen. Und nun frage ich mich, warum Onkel Hannes jeden Tag in diese Kneipe geht. Scheinbar hat er doch gar keine Freunde. Es war halt nicht so wie bei dir, Großvater, wenn du bei deiner Stammtischrunde warst, deine Freunde dich freudig begrüßten und ihr euch über die Neuigkeiten unterhalten habt. Ich erinnere mich noch ganz genau, als du mich einmal in den Ferien zu deinem Stammtisch mitgenommen hast. Das war ganz anders. Onkel Hannes saß nur allein an seinem Tisch, starrte in sein Glas und niemand sprach mit ihm. Warum nicht?
    Oh, ich höre Onkel Hannes nach Hause kommen. Ich muss schnell Schluss machen und das Licht löschen, damit er nicht merkt, dass ich noch wach bin.

     
    Viele liebe Grüße,
    Dein Tom

4
    Als er wach wurde, schien die Sonne durch das kleine Dachfenster. Er stand auf, öffnete es ganz weit und atmete tief ein.
    ›Was für eine tolle Luft‹, dachte er, ›einfach einmalig!‹ In München hatte er oft das Gefühl, gar nicht richtig atmen zu können. Diese stickige, heiße Luft, die abgestanden und verbraucht über der Stadt hing. Überhaupt kein Vergleich zu hier: die Frische und Würze der Seeluft, die den Kopf frei machten. Für einen winzigen Augenblick schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, Onkel Hannes Haus zu behalten und hierher zu ziehen. Das Dorf schien so friedlich. Er schüttelte seinen Kopf, so als könne er damit die ihm so absurd wirkenden Gedanken vertreiben.
    In der Küche standen noch Brot und Käse. Eine Fliege hatte sich bereits darauf niedergelassen. In aller Ruhe erkundete sie die Essensreste auf dem Teller. Tom verscheuchte sie, als er nach einem Stück Käse griff.
    Im kleinen Bad direkt neben der Treppe putzte er sich kurz die Zähne und spritzte etwas kaltes Wasser in sein Gesicht. Er zog sich an, nahm seine Jacke, griff nach den Autoschlüsseln auf dem Regal im Flur und trat hinaus in die angenehm frische Morgenluft. Der Himmel war strahlend blau, nur ein paar winzig kleine Wolken trieben hier und da träge vor sich hin. Er fuhr den kleinen Weg hinter dem Haus entlang, der zum Friedhof führte.

     
    Frank Petersen stieg aus dem Taxi. Es war früh am Morgen, alle Bewohner des Hofes schienen noch zu schlafen.
    Im Hausflur kam ihm der Knecht entgegen. Ohne ein Wort gingen sie aneinander vorbei. »Lass ihn doch denken, was er will«, murmelte Frank. Er polterte die Treppe in den ersten Stock hinauf. Oben blieb er kurz stehen, horchte, ob jemand wach geworden war, doch alles blieb ruhig.
    »Tja Alter«, flüsterte Frank schadenfroh vor der Tür zum Zimmer seines Vaters, »deine Ohren sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
    Er ging ins Wohnzimmer, schaltete das Radio ein. Herbert Grönemeyer sang gerade ›Alkohol‹ und Frank grölte laut mit. Aus seiner Manteltasche holte er Zigaretten und Streichhölzer. Erst mit dem dritten Streichholz gelang es ihm, die Zigarette zum Glimmen zu bringen. Er ließ sich auf das Sofa fallen und inhalierte den Rauch. Vom Flur her hörte er schlurfende Schritte, und unweigerlich verzog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen, noch ehe die Tür geöffnet worden war.
    »Wo bist du gewesen?« wollte Broder von ihm wissen.
    »Guten Morgen erst einmal«, entgegnete Frank, »und um auf deine Frage zu antworten: Ich war aus.«
    »Aus, aus, die ganzen letzten Wochen warst du aus. Wo du gewesen bist, will ich wissen.«
    »Ich glaube nicht, dass dich das was angeht.«
    Frank drückte die Zigarette in dem kleinen Metall-aschenbecher vor ihm auf dem Couchtisch aus, dann stand er auf und trat Broder gegenüber. Rein körperlich war Frank seinem Vater schon lange
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