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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath
Autoren: Malcolm Gladwell
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gut, das ist wichtig für dich. Dir passiert gerade was Furchtbares, aber hör hier genau zu.« «
    Der Fremde hatte sein Schicksal als unvermeidlich dargestellt. Ich sag Ihnen das, damit Sie wissen, was Ihnen bevorsteht. Doch die Derksens verstanden es nicht als Prophezeiung, sondern als Warnung. Das könnte ihnen bevorstehen. Sie könnten ihre Gesundheit, ihren Verstand und einander verlieren, wenn sie sich von der Ermordung ihrer Tochter auffressen ließen.
    »Wenn er nicht in diesem Moment gekommen wäre, dann wäre vielleicht alles ganz anders gelaufen«, meint Wilma. »Im Rückblick würde ich sagen, er hat uns dazu gezwungen, eine andere Möglichkeit zu suchen. Wir haben uns gefragt, wie kommen wir da raus?«
    Die Derksens legten sich schlafen, auch wenn sie kaum ein Auge zumachten. Am nächsten Tag war die Beerdigung von Candace. Sämtliche Zeitungen und Fernsehsender der Provinz waren da. Das Verschwinden von Candace Derksen hatte die Stadt gepackt.
    Als ein Reporter fragte, was sie fühlten, wenn sie an den Täter dachten, antwortete Cliff: »Wir möchten wissen, wer das getan hat, um ihm vielleicht etwas von der Liebe geben zu können, die ihm fehlt«, sagte Cliff.
    Dann antwortete Wilma. »Unsere Hauptsorge war, Candace zu finden. Wir haben sie gefunden.« Dann fuhr sie fort: »Ich kann Ihnen noch nicht sagen, dass ich dem Täter vergebe«, doch die Betonung lag auf »noch nicht.« »Jeder von uns hat irgendwann mal was Schreckliches getan oder hat zumindest das Bedürfnis gehabt.«
6
    Hat sich Wilma Derksen heldenhafter verhalten als Mike Reynolds? Oder weniger heldenhaft? Aber das ist vermutlich die falsche Frage. Beide handelten in bester Absicht, und beide gingen mutig ihren Weg.
    Was die beiden unterscheidet, ist ihre Vorstellung dessen, was man mit weltlicher Macht erreichen kann. Die Derksens wehrten sich gegen jeden Racheinstinkt, den sie als Eltern hatten, weil sie nicht glaubten, dass sie damit etwas bezwecken würden. Sie glaubten nicht an die Macht der Riesen. Sie waren als Mennoniten aufgewachsen. Die Mennoniten sind Pazifisten und Außenseiter. Wilmas Familie war aus Russland eingewandert, wo sich viele Mennoniten im 18.   Jahrhundert niedergelassen hatten. Während der Revolution und unter Stalin wurden die Mennoniten wiederholt und grausam verfolgt. Viele Dörfer wurden dem Erdboden gleich gemacht. Hunderte erwachsene Männer wurden nach Sibirien deportiert, ihre Bauernhöfe geplündert und niedergebrannt, und ganze Dorfgemeinschaften flohen nach Nordamerika. Sie zeigt mir das Foto einer Großtante, das noch in Russland aufgenommen worden war. Sie erinnert sich daran, wie ihre Großmutter dieses Bild in der Hand hielt, wenn sie von ihrer Schwester erzählte und dabei weinte. Die Großtante hatte in der Sonntagsschule unterrichtet und war bei den Kindern sehr beliebt gewesen. Während der Revolution waren sie und die Kinder von bewaffneten Männern verschleppt und ermordet worden. Wilmas Großvater wurde jede Nacht von Alpträumen über die Erlebnisse in Russland aus dem Schlaf gerissen und stand morgens auf, um seiner Arbeit nachzugehen. Sie erinnert sich daran, dass ihr Vater beschloss, einen Mann nicht zu verklagen, der ihm viel Geld schuldete, weil er die Sache auf sich beruhen lassen wollte. »Das glaube ich, und danach leben wir«, sagte er.
    Einige Religionen verehren Helden und Propheten. Die Mennoniten haben Dirk Willems, der im 16.   Jahrhundert wegen seiner religiösen Überzeugungen zum Tode verurteilt worden war. Aus Lumpen knotete er ein Tau, seilte sich aus dem Fenster des Gefängnisturms ab, in dem er einsaß, und entkam über die gefrorenen Seen. Ein Wächter verfolgte ihn. Willems rettete sich ans sichere Ufer, doch der Wächter brach durch das Eis. Willems blieb stehen, ging zurück und zog den Mann aus dem Wasser. Für diese gute Tat wurde er wieder eingesperrt, gefoltert und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt, während er siebzigmal »Oh mein Herr, mein Gott« rief. 154
    »Als Kind habe ich gelernt, dass es eine andere Möglichkeit gibt, mit Unrecht umzugehen«, sagt Derksen. »In der Schule haben wir die Geschichte der Verfolgung kennengelernt. Wir hatten ein Bild vom Märtyrertum, das bis ins 16.   Jahrhundert zurückreicht. Die gesamte Philosophie der Mennoniten besteht darin, zu vergeben und zu vergessen.« Für die Mennoniten ist die Vergebung ein zentrales Gebot: Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Es ist aber auch eine sehr praktische
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