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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath
Autoren: Malcolm Gladwell
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befand sich auf dem absteigenden Ast der umgekehrten Parabel. In Kalifornien waren 1989 rund 76   000   Menschen hinter Gittern. Zehn Jahre später hatte sich diese Zahl vor allem dank den Three Strikes verdoppelt. Zu Beginn des 21.   Jahrhunderts war der Anteil der Häftlinge an der Gesamtbevölkerung in Kalifornien fünf- bis achtmal so hoch wie in Kanada oder Westeuropa. Wäre es nicht möglich, dass die Three Strikes einige Teile von Kalifornien zu Brownsvilles gemacht hat?
    Reynolds ist überzeugt, dass er mit seinem Feldzug pro Tag sechs Menschenleben gerettet hat. Tatsächlich ging die Zahl der Verbrechen nach Verabschiedung des Gesetzes drastisch zurück. Aber auf den zweiten Blick wird klar, dass dieser Rückgang schon vorher begonnen hatte. In den 1990er Jahren ging die Zahl der Verbrechen in Kalifornien zwar deutlich zurück, doch dieses Phänomen war auch in vielen anderen Teilen der Vereinigten Staaten zu beobachten – auch dort, wo die Gesetze nicht verschärft wurden. Je intensiver sich Kriminologen mit Three Strikes auseinandersetzten, umso unklarer wurden die Auswirkungen des Gesetzes. Einige Experten kamen zu dem Schluss, es habe die Verbrechensrate gesenkt. Andere meinten, es habe zwar gewirkt, doch das Geld, das der Staat für den Bau zusätzlicher Gefängnis ausgegeben habe, wäre anderswo besser angelegt gewesen. Eine Untersuchung kam sogar zu dem Schluss, Three Strikes habe zwar zu einem Rückgang der Verbrechensrate insgesamt geführt, bei den Gewaltverbrechen habe es jedoch paradoxerweise einen Anstieg bewirkt. Die meisten Untersuchungen erkennen jedoch überhaupt keine Auswirkungen, und einige Untersuchungen behaupten sogar, Three Strikes habe einen Anstieg der Kriminalität bewirkt. 150 Der Bundesstaat Kalifornien führte das größte Strafrechtsexperiment in der Geschichte der Vereinigten Staaten durch, und 25   Jahre und zig Milliarden Dollar später konnte niemand sagen, ob es etwas gebracht hatte oder nicht. 151 Im November   2012 gaben die Kalifornier schließlich auf. In einer Volksabstimmung wurde das Gesetz radikal zurückgenommen. 152
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    Wilma Derksen war zu Hause und räumte das Wohnzimmer im Keller auf, als ihre Tochter Candace anrief. 153 Es war ein Freitagnachmittag im November, ein Jahrzehnt, bevor Kimber Reynolds zum letzten Mal das Haus ihrer Eltern verließ. Die Derksens lebten in Winnipeg, einer Stadt in den Weiten der kanadischen Prärie, und um diese Jahreszeit herrschte draußen Frost. Candace war dreizehn. Sie kicherte und flirtete mit einem Klassenkameraden. Sie bat ihre Mutter, sie abzuholen. Wilma dachte kurz nach. Die Derksens hatten nur ein Auto. Wilma musste ihren Mann Cliff von der Arbeit abholen, aber der machte erst in einer Stunde Feierabend. Außerdem hatte sie noch zwei kleinere Kinder, eines war neun und das andere zwei Jahre alt, die sich im Hintergrund kabbelten. Sie hätte erst diese beiden ins Auto verfrachten müssen, um dann Candace und schließlich ihren Mann abzuholen. Sie würde eine Stunde lang mit drei hungrigen Kindern im Auto sitzen. Aber esgab einen Bus. Candace war kein Kind mehr. Das Haus war ein einziges Chaos.
    »Candace, hast du Geld für den Bus?«
    »Ja.«
    »Ich kann dich gerade nicht abholen«, sagte die Mutter.
    Derksen saugte das Wohnzimmer fertig. Sie faltete die Wäsche und räumte auf. Dann hielt sie inne. Irgendetwas stimmte nicht. Sie sah auf die Uhr. Candace sollte längst zu Hause sein. Draußen war es kälter geworden und es hatte angefangen zu schneien. Sie erinnerte sich, dass sich Candace nicht sonderlich warm angezogen hatte. Unruhig ging sie zwischen dem Flur- und dem Küchenfenster hin und her und sah abwechselnd auf die Straße und in den Hinterhof. Candace konnte aus beiden Richtungen kommen. Die Minuten vergingen. Inzwischen war es Zeit, ihren Mann abzuholen. Sie packte die beiden Kinder ins Auto und fuhr langsam die Talbot Avenue entlang, die zu Candace’ Schule führte. Sie starrte in die Fenster des Minisupermarkts, wo ihre Tochter manchmal herumtrödelte. Als sie an der Schule ankam, waren die Türen verschlossen. »Mama, wo ist Candace?«, fragte ihre neunjährige Tochter. Sie fuhren zu Cliffs Büro.
    »Ich kann Candace nicht finden«, sagte Wilma zu ihrem Mann. »Ich mache mir Sorgen.«
    Auf dem Rückweg suchten die vier beide Straßenseiten ab. Wieder zu Hause, riefen sie Freunde an. Seit dem Nachmittag hatte niemand das Mädchen gesehen. Wilma fuhr zu dem Klassenkameraden, mit dem Candace geflirtet
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