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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath
Autoren: Malcolm Gladwell
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hatte, ehe sie zu Hause angerufen hatte. Er sagte, er habe gesehen, wie sie die Talbot Avenue entlanggegangen sei. Die Derksens riefen die Polizei an. Um 23   Uhr klingelten zwei Beamte an der Tür. Sie setzten sich an den Esstisch und fragten Wilma und ihren Mann, ob Candace zu Hause glücklich gewesen sei.
    Die Derksens organisierten einen Suchtrupp und versammelten Mitglieder aus der Kirchengemeinde, Eltern von Klassenkameraden und jeden, der ihnen einfiel. In ganz Winnipeg hängten sie Plakate auf und starteten die größte Suchaktion in der Geschichte der Stadt. Sie beteten. Sie weinten. Sie schliefen nicht. Ein Monat verging. Zur Ablenkunggingen sie mit ihren beiden Kindern ins Kino und sahen Pinocchio – bis zu der Szene, in der sich der alte Gepetto verzweifelt auf die Suche nach seinem verlorenen Sohn macht.
    Im Januar, sieben Wochen nach dem Verschwinden von Candace, waren die Derksens auf der Polizeiwache, als zwei Beamte, die mit dem Fall betraut waren, Cliff beiseitenahmen. Einige Minuten später holten sie Wilma dazu und brachten sie in einen Raum. Cliff zögerte einen Moment lang, dann sagte er: »Wilma, sie haben Candace gefunden.«
    Ihr Leichnam lag in einem Schuppen keine 500   Meter von ihrem Haus entfernt. Sie war an Händen und Füßen gefesselt. Sie war erfroren.
5
    Die Derksens erlebten denselben Schock wie Mike Reynolds. Winnipeg reagierte mit derselben Empörung auf die Ermordung von Candace wie Fresno auf die Ermordung von Kimber. Sie trauerten, genau wie Mike Reynolds getrauert hatte. Doch hier enden die Gemeinsamkeiten zwischen beiden Tragödien auch schon.
    Als die Derksens von der Polizeiwache nach Hause kamen, füllte sich ihr Haus mit Freunden und Verwandten. Sie blieben den ganzen Tag. Um 22   Uhr waren nur noch die Derksens und einige enge Freunde übrig. Sie saßen in der Küche und aßen Kirschkuchen, als es klingelte.
    »Ich habe gedacht, dass vielleicht irgendjemand seine Handschuhe vergessen hat«, erzählt Wilma Derksen. Sie sitzt in einem Stuhl im Garten ihres Hauses in Winnipeg. Sie spricht langsam und stockend, während sie sich an den längsten Tag ihres Lebens zurückerinnert. Sie öffnete die Tür. Draußen stand ein Fremder. »Er hat nur gesagt: Ich bin auch Vater eines ermordeten Kindes.«
    Der Mann war Mitte 50, eine Generation älter als die Derksens. Seine Tochter war einige Jahre zuvor in einer Bäckerei ermordet worden. Der Fall hatte damals in Winnipeg große Wellen geschlagen. Ein Verdächtiger namens Thomas Sophonow war festgenommen und nach dreilangen Verhandlungen verurteilt worden. Nachdem er vier Jahre seiner Strafe abgesessen hatte, wurde das Urteil von einem Berufungsgericht aufgehoben. Der Mann saß in der Küche. Sie gaben ihm ein Stück Kirschkuchen und dann fing er an.
    » Wir haben um den Tisch herum gesessen und ihn nur angestarrt. Ich erinnere mich, wie er uns die gesamte Geschichte erzählt hat, alle drei Gerichtsverfahren. Er hatte ein schwarzes Büchlein dabei, so wie ein Reporter. Kein Detail hat er ausgelassen. Sogar die Rechnungen hatte er dabei, die er bezahlt hatte. Er hat sie nebeneinander auf den Tisch gelegt. Er hat über Sophonow geredet und darüber, wie unmöglich die Prozesse waren. Er hat darüber geredet, wie wütend er ist, dass es keine Gerechtigkeit gibt und dass das System nicht in der Lage ist, jemanden schuldig zu sprechen. Er wollte uns eines klarmachen: Der Prozess hatte ihn zerstört. Er hatte seine Familie zerstört. Er konnte nicht mehr arbeiten. Seine Gesundheit war er am Ende. Er hat uns aufgezählt, welche Medikamente er nehmen musste. Ich habe gedacht, der bekommt in dem Moment einen Herzinfarkt. Ich glaube nicht, dass er geschieden war, aber so, wie er geredet hat, war die Ehe am Ende. Über seine Tochter hat er eigentlich so gut wie gar nichts gesagt. Er war irgendwie total besessen von dem Gedanken der Gerechtigkeit. Das konnte man spüren. Er hat dauernd gesagt: ›Ich sag Ihnen das, damit Sie wissen, was Ihnen bevorsteht.‹ «
    Es war weit nach Mitternacht, als er aufhörte. Er sah auf die Uhr. Dann stand auf und ging.
    » »Es war ein entsetzlicher Tag«, sagt Wilma. »Sie können es sich vielleicht vorstellen. Wir waren alle durchgedreht und irgendwie, ich weiß nicht, wie ich’s erklären soll, völlig betäubt. Aber dieses Erlebnis ist durch die Betäubung durchgedrungen. Es war derart eindringlich. Ich hatte das Gefühl, das ist wichtig. Ich kann’s nicht erklären. Ich hatte das Gefühl, merk’s dir
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