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David und Goliath

David und Goliath

Titel: David und Goliath
Autoren: Malcolm Gladwell
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und jagte ihnen Nadeln in die Schienbeine. Aber er hatte Schlimmeres durchgemacht. Die Hugenotten, die sich vor allem um ihr Eigeninteresse kümmerten, waren längst zu anderen Religionen konvertiert oder geflohen. Übrig blieben die Sturköpfe und Quertreiber.
    Der Polizeibeamte, der Trocmé verhaftete, fragte ihn nicht nach seinem Namen. Trocmé überredete die Beamten, ihn zum Bahnhof zurückzubringen, wo er seinen Sohn traf und durch einen Seiteneingang entkam. Aber wenn er gefragt worden wäre, ob er Béguet hieß, hätte er ihnen die Wahrheit gesagt: »Nein, ich bin nicht Monsieur Béguet. Ich bin Pastor André Tocmé.« Es war ihm egal. Wie soll ein Goliath mit jemandem fertig werden, der so denkt? Man konnte ihn natürlich töten. Doch das ist genau der Ansatz, mit dem die Briten in Nordirland so spektakulär scheiterten und mit dem das Three-Strikes-Gesetz in Kalifornien Schiffbruch erlitt. Übermäßige Gewaltanwendung schafft Legitimitätsprobleme, und Gewalt ohne Legitimität bewirkt nicht Gehorsam, sondern Widerstand. Man konnte André Trocmé zwar töten, doch vermutlich wäre ein anderer André Trocmé an seine Stelle getreten.
    Als Trocmé zehn Jahre alt war, unternahm seine Familie einmal eine Landpartie. Zusammen mit seinen beiden Brüdern und einem Cousin saß er auf dem Rücksitz des Autos, seine Eltern saßen vorn. Sein Vater wurde ungeduldig, weil ein Auto vor ihnen so langsam fuhr, und scherte aus, um zu überholen. Seine Mutter rief: »Paul, Paul, nicht so schnell! Es gibt ein Unglück!« Der Wagen überschlug sich. Der junge André befreite sich aus dem Wrack. Sein Vater, seine Brüder und sein Cousin waren wohlauf. Seine Mutter nicht. Er sah sie, wie sie in zehn Metern Entfernung reglos am Boden lag. Vor einem nationalsozialistischen Offizier zu stehen ist nichts im Vergleich dazu, seine Mutter tot am Straßenrand liegen zu sehen. Später schrieb Trocmé:
    » Wenn ich seither so viel gesündigt habe, wenn ich so einsam war, wenn meine Seele so verwirrt war, wenn ich an allem gezweifelt habe, wenn ich ein Fatalist war, wenn ich ein pessimistisches Kind war, das täglich den Tod erwartete und fast suchte, wenn ich mich dem Glück nur zögernd und spät geöffnet habe und wenn ich ein nüchterner Mann bin, der nicht in der Lage ist, laut und herzlich zu lachen, dann, weil du mich an diesem 24.   Juni auf dieser Straße verlassen hast.
    Aber wenn ich an ewige Wahrheiten glaube ... wenn ich mich ihnen anvertraut habe, dann ebenfalls, weil ich allein war, weil du nicht mehr da warst, mein Gott zu sein und mein Herz mit reichem und unbändigem Leben zu füllen. «
    Es waren nicht die Reichen und Privilegierten, die in Frankreich die Juden aufnahmen. Es waren die Lädierten am Rande der Gesellschaft. Das sollte uns daran erinnern, dass Leid und Unglück nur begrenzte Macht über uns haben. Die Bombardierung einer Stadt hinterlässt Tod und Zerstörung – doch sie schafft auch eine Gemeinschaft von Überlebenden. Der Tod eines Vaters oder einer Mutter bedeutet Leid und Verzweiflung – doch hin und wieder erwächst aus dieser Verzweiflung eine unbeugsame Kraft. Ein genetischer Zufall nimmt einem Menschen die Fähigkeit zu lesen – doch sie schenkt ihm die Gabe des Zuhörens. Wir sehen den Riesen und den Hirten im Tal von Elah, und wie gebannt starren wir den Mann mit dem Schwert und der glänzenden Rüstung an. Doch vieles von dem, was wir in dieser Welt lieben und schätzen, kommt von diesem Hirten, der über mehr Kraft und Entschlossenheit verfügt, als wir ihm zutrauen.
    Der älteste Sohn von Magda und André Trocmé hieß Jean-Pierre. Er war ein sensibler und begabter junger Mann. André Trocmé hing sehr an ihm. Eines Abends kurz vor Kriegsende besuchte die Familie eine Lesung des Gedichts »Ballade der Gehenkten« von François Villon. Als sie am nächsten Abend nach Hause kamen, fanden sie Jean-Pierre aufgeknüpft im Badezimmer. Trocmé taumelte in den Wald und rief: »Jean-Pierre! Jean-Pierre!« Später schrieb er: »Bis heute trage ich einen Tod in mir, den Tod meines Sohnes, und ich fühle mich wie eine enthauptete Tanne. Einer Tanne wächst die Spitze nicht mehr nach. Sie bleibt für immer verdreht, verkrüppelt.« Doch er scheint innegehalten zu haben, als er diese Worte schrieb, denn was in Le Chambon geschah, lässt vermuten, dass das noch nicht die ganze Wahrheit war. Dann schrieb er: »Sie wächst in die Breite, genau wie ich.«

Dank

    Dieses Buch hat der Weisheit und
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