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Dauerhaftes Morgenrot

Dauerhaftes Morgenrot

Titel: Dauerhaftes Morgenrot
Autoren: Joseph Zoderer
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gespreizten Beinen dastehend schmetterte er dieses Lied in den Hof: Granada, er hatte plötzlich glückliche Augen, als wären sie blau oder als wäre dieses Lied sein Stolz oder seine beste Erinnerung, er schleifte das Lied durch einen Saal, bis sein Gesang zu einem Schrei wurde, und mit diesem Schrei hopste er vor dem Gasherd und dem Eisschrank herum: G-r-a-n-a-d-a-a, wobei er den Fanfarenschrei auf ein Wimmern herunterzog und bei diesem Wimmern blieb, bis er, Lukas, sich mit dicker Unterlippe zwischen Küchentisch und Hoffenster stehend aus dem Telefon sagen hörte: Du kannst dich umbringen, aber ich bleibe, wo ich bin, und zum erstenmal den Dicklippigen zu verstehen begann, der das Küchenmesser als Telefonhörer gebraucht hatte und die Schneide des Messers zuerst links, dann rechts über die Pulsadern seines Handgelenks hackte, während er G-r-a-n-a-d-a-a brüllte, so daß bei jedem Aufjauchzen das Blut aus seinen Schlagadern spritzte, da hörte ich, Livia, auf, im Traum zu singen, aber ich freute mich über die rote Leichtigkeit, die aus den Adern des dicklippigen Freundes quoll, und ich sah ihm zu, wie er aufs Geratewohl mit der Spitze des Messers in seine Brust stieß und das Herz zu treffen versuchte, obwohl ich wußte, daß dies keine amtlich registrierte Befreiung sein konnte. Ich glaubte, daß er sich trotz allem nicht umbringen wollte, und ich wollte nicht wegsehen, und das verstand er und sah mir in die Augen, und mit feixenden Lippen wies er mich auf den nächsten Messerstich hin, was ich aber erst begriff, als er sich das Messer ins Herz drückte, und wahrscheinlich nur deshalb begriff, weil ich ihm zusah; und als ich das verstanden hatte, war ich zeitweilig schon wieder wach.
    Wahrscheinlich habe ich mich selbst geweckt, um dem Schrecken zu entkommen, oder der Schrecken hat mich geweckt; ich bin mit einer heftigen Begierde nach Leben aufgewacht, ich wollte dazugehören zu all diesen blutdurchströmten Fußgängern am Morgen, ich wollte noch einmal einen Tag durchleben, und sei es einen kalten Novembertag mit den ersten und letzten aufheulenden Motoren.
    Aber es war noch Nacht, und halb sah Lukas noch immer zu, wie sich sein Schulkamerad die Arme und das Herz zerhackte. Giannas Perücke lag neben dem Bett, als er seine Wäsche zusammensuchte, durch die Jalousienschlitze sickerte schwach das Straßenlicht. Er hätte sich gerne an den warmen Konturen der Schlafenden festgehalten, gewaltlos, aber mit der ganzen Kraft des Wünschens.
    Am Kleiderständer vorbei fand er, ohne Licht anzumachen, die Küche, durch das Fenster zum Hinterhof fiel das Licht eines alten Mondes herein, er konnte die Pfeffermühle und die Espressomaschine ausmachen, und bald auch die Ränder der Gläser auf dem Tisch. Und alles war blutlos, es lag kein Körper herum, er roch den Zwiebelgeruch des Abends, unvermischt von sich zersetzendem Blut; es war so still, in keiner Vorhangfalte hing ein lauter Atem. Lukas öffnete das Küchenfenster, spürte die Simskante gegen seine Schenkel drücken, und allmählich bemerkte er, wie er gleichmäßig nach vorne und zurück wippte, ich lebe, sagte er halblaut und sah Livia neben sich stehen, als könnte man im November bei Nacht in einen Mückenschwarm blicken.
    Gianna schlief noch, als er in das Zimmer zurückkehrte, und doch wußte er, daß sie ihn beobachtete, oder er glaubte es zu wissen; mit schnellen Bewegungen schlüpfte er in Hemd und Schuhe und in die Ärmel der Jacke, den Mantel unter einen Arm raffend zögerte er, sich über Giannas Gesicht zu beugen. Da wandte Gianna sich um, sie schützte ihre Augen mit den Händen: Du gehst, sagte sie, du mußt gehen, sagte sie, wie seltsam.
    Er blieb vor ihr stehen, am Bettrand, mit dem Mantel über dem Arm, es war dämmerig dunkel, er bückte sich, kauerte sich in die Hocke und berührte ihren Mund, mehrmals.
    Gleich nach der Benzinzapfsäule, um die Gianna mit ihm herumgetanzt war, am Rande des Platanenparks, warf er alle Münzen der letzten Tage in den Telefonapparat und wählte.
    Er hätte alles anders machen müssen, wenn vom anderen Ende keine Antwort gekommen wäre, und er hoffte auf eine Antwort, ohne sagen zu können, warum. Mit Ungeduld wählte er mehrmals die Nummer, hängte auf und wählte erneut. Er wollte das Klicken hören und ihre Stimme, und während er durch die Scheibe der Kabine auf die
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