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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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über Aachen, für die Pilger aus Nordeuropa und Norddeutschland, oder auf der »Oberstrass« durch die Schweiz, für Pilger aus der Schweiz, Süddeutschland und Osteuropa. Einer der vielen Wege zur »Oberstrass«, der »Oberdeutsche Weg«, führte die Pilger aus dem fränkisch-schwäbischen Raum über Winnenden mit seinem bildreichen Jakobus-Altar, über Esslingen und Tübingen das Neckartal aufwärts, der Schweiz zu.

    Bereits nach wenigen Kilometern stoßen Pilger aus Ostfildern beim Kloster Denkendorf auf diesen Weg. Schon hier begegnet ihnen der Jakobsweg eindringlich in der Aura des mittelalterlichen Bauwerks. Drei Eigenschaften der Klosterkirche werden die Pilger bis nach Santiago begleiten: der romanische Baustil, die ehemalige Zugehörigkeit des Klosters zu einem Pilgerorden und das Patrozinium des heiligen Pelagius, welcher mit seinem Namen an die Auffindung des Jakobus-Grabes erinnert.
    Pilger wandern sodann weiter gegen Süden, den Neckar stromaufwärts, den Albtrauf zu seiner Linken. Sie gehen vorbei an der Jakobskirche in Tübingen, über Balingen und Rottweil nach Villingen-Schwenningen. Immer wieder wird ihnen bewusst, dass sie auf alten Spuren wandeln: Im Villinger Münster bemerken sie die mittelalterliche Steinstatue der »Pilgerkrönung« durch den heiligen Jakobus. Von dieser aus ziehen sie weiter nach Donaueschingen, dort gabelt sich der Weg in die Route über Einsiedeln und in den auch schon in früheren Zeiten begangenen Weg über Basel. Diesem folgend, gelangen Pilger durch die Gauchach- und Wutach-Schlucht sowie über die hügeligen Ausläufer des südlichen Schwarzwalds ins Klettgau. Sie erreichen nach einem kurzen Abstecher in die Schweiz Waldshut-Tiengen, wo sie der zweite große Pilgerheilige, der heilige Rochus, auf der Brücke vor dem Stadttor begrüßt.
    Weiter wandern die Pilger am Rhein entlang, sie passieren Bad Säckingen mit der großen alten Holzbrücke und erreichen schließlich nach knapp zwei Wochen Basel. Wenn der Klang ihrer Füße im Inneren des romanisch-gotischen Münsters nachhallt, hören und fühlen sie, dass sich ihr Körper an das Pilgern angepasst und sich ihre Art zu gehen, ihr Schritt, verändert hat.

    Schuhwechsel: Ich ziehe meine schwarzen Lederschuhe aus und tausche sie gegen robuste Wanderstiefel ein. Nach drei Jahren hektischer Wirtschaftswelt, klimatisierter Büroräume, 14-Stunden-Tagen, mancher durchgearbeiteten Nacht sowie unzähliger Flugmeilen, erhoffe ich mir in der Einsamkeit der Natur und der Langsamkeit des Gehens den Raum und die Ruhe zur Neuorientierung. Ich habe mir die Freiheit genommen, mir selbst zu begegnen.

    Gerade halten sich die ersten Sonnenstrahlen am Horizont fest. Der Tag bricht an, und ich mit ihm zu meinem Jakobsweg auf. Das Echo unseres gemeinsamen gregorianischen Chorals hallt im Halbdunkel von den Wänden der Kirche in Ostfildern: »Oculi mei semper ad Dominum, quia ipse evelet de laqueo pedes meos...« — »Meine Augen schauen immer auf den Herrn, er ist es, der meine Füße aus der Schlinge löst...« Mittelalterlicher Gesang am Anfang meines Pilgerwegs: Pfarrer Peter Martins und meine Stimme klingen zusammen in der gleichen Melodie, nachdem dieser mir den Pilgersegen erteilt hat. Ich werde es noch oft hören, dieses Echo. Es wird von den glatten Steinwänden vieler kleiner Kapellen am Wegesrand bis nach Santiago zurückgeworfen werden. »Oculi mei« wird mein Mantra, mein Gebet, meine Versenkung für die 2600 vor mir liegenden Kilometer.

    Die Morgensonne überzieht die Felder auf dem Weg zum Kloster Denkendorf mit Blattgold. Frische, kühle Luft in meinen Lungen. Ungewohnt sind die ersten Schritte, das Gewicht des Rucksacks auf dem Rücken, der Pilgerstab in der Hand. Sie künden von einer neuen Freiheit und einem neuen Frieden. Drei Monate keine Termine, keine Abgabefristen. Eine Bäuerin ruft mir fragend vom Feld zu: »Wohin?« »Nach Santiago, nach Spanien!«, jubele ich gegen den Morgenwind euphorisch zurück. Sie schüttelt verständnislos den Kopf.

    »Dem wünsch’ ich meine Blasen an die Füße!«
    Tübingen. Erste Etappe, 21:00 Uhr abends. Meine Muskeln sind komplett ausgelaugt. Mein Kreislauf am Boden. Das hatte ich mir anders vorgestellt. Der gerade erst erschienene Pilgerführer über Jakobswege in Süddeutschland gibt für die Strecke Esslingen-Tübingen 29 Kilometer Länge an. Macht für mich von Ostfildern so ungefähr 26, eine gute Wegstrecke für einen ersten Tag. Frohen Muts durchquerte ich das
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