Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Titel: Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
Autoren: Petra Busch
Vom Netzwerk:
[home]
Prolog
    Anfang Dezember
    D er Schnee schluckt sein Wimmern.
    Er sieht auf den Boden. Kommen die weinenden Laute überhaupt aus seinem eigenen Mund? Langsam bückt er sich und berührt vorsichtig die kleine weiße Stirn. Sie ist warm. Er geht in die Hocke und streicht über die Wangen. Abrupt zieht er seine Hand zurück. Die Haut fühlt sich an wie die Blätter einer Rosenblüte, schießt es ihm durch den Kopf. Dann tippt er vorsichtig gegen die kleine Hand, die unter der bunten Decke hervorragt. Sie liegt auf der dünnen Schneeschicht, zu einer schlaffen Faust geballt, greift nicht mehr nach seinen rauhen Fingern. Er bringt seinen Oberkörper dicht über das winzige Gesicht, studiert jeden Zentimeter. Geschlossene Augenlider, fast durchsichtig. Goldene Wimpern und Härchen, bleich im Abendlicht. Blasse Lippen, leicht geöffnet, als wollte sich noch ein letzter Ruf in die klirrende Dezemberkälte hinausstehlen.
    Er merkt, dass er zittert. Er versteht das alles nicht. Der leblose kleine Körper. Und das Beben seiner Hände und Beine. Er zittert sonst nie. Selbst wenn er im Winter zwischen den kahlen Bäumen übernachtet oder mit der Axt das Eis vom Weiher schlägt, um ein paar Züge zu schwimmen, spürt er keine Kälte.
    Er versucht, seine Gedanken auf das Baby zu richten, will nachdenken, aber es gelingt ihm nicht. Die Bilder purzeln in seinem Kopf hin und her. Das stille Haus. Die schlafende Mutter neben der Wiege. Seine schleichenden Schritte. Es war ihm schwergefallen, leise zu sein. Er hatte die Stiefel ausziehen müssen. Fast hätte er den Reim gesummt. Aber das durfte er nicht. Heute war es verboten. Und dann, später, war das Kind zu Boden gefallen. Leicht und leise wie eine Schneeflocke, direkt vor seine Füße, die Zipfel der Decke hatten für den Bruchteil von Sekunden wie die Flügel eines Raben geflattert. Er mag die Vögel. Und er mag Schneeflocken. Sie schweben so sanft, hüllen die Welt in Stille.
    Plötzlich schneidet die Stimme durch seinen Schädel. »Du musst es verschwinden lassen«, sagt sie.
    Verwirrt richtet er sich auf, stiert um sich.
    »Niemand darf es wissen!«
    Er hält sich die Ohren zu, schüttelt den Kopf.
Warum?
Warum soll es niemand wissen? Er versteht nicht. So hat er es doch gelernt: Sünde braucht Buße. Er tut nichts Unrechtes. Er hat das Kind aus dem Bettchen holen müssen. Das war sein Auftrag. Es war richtig gewesen. Sie würden ihn dafür loben!
    »Bring es weg, versteck es!«
    Er presst die Hände fester auf seine Ohren, biegt die Schultern nach vorne und krümmt den Oberkörper zusammen, bis er glaubt, nichts mehr wahrzunehmen. Doch die Wörter hallen unbarmherzig in seinem Inneren.
    »Du musst es fortschaffen! Du willst doch dein Leben nicht ruinieren! Komm, komm!«
    Er weiß, dass er der Stimme gehorchen muss. Das war schon immer so gewesen.
    Ein Rabe beginnt zu krächzen. Er drückt noch fester auf seine Ohren.
Nein, nicht jetzt! Weg! Weg!
Der Schrei des Vogels droht seinen Kopf zu sprengen, er schmerzt. Er muss sich konzentrieren, Ruhe haben. Der Rabe schreit erneut. Zorn erfasst ihn, während er den Blick starr nach unten gerichtet hält. »Krah!«, brüllt er zurück, und ein ersticktes Echo verfängt sich in den Bäumen. »Krah!«
    Der Rabe verstummt. Stille senkt sich über die fahle Ebene. Er reißt die Arme herunter, ganz dicht an seine Seiten. Dann beginnt er, seinen Körper rhythmisch vor- und zurückzubewegen. Doch das Zittern endet nicht.
    »Los jetzt«, zischt die Stimme und windet sich zwischen seinen Schläfen wie eine dünne Schlange. »Beeil dich! Du kannst das Kind nicht hier liegen lassen. Und zurück kannst du es auch nicht bringen.«
    Erschrocken hält er inne und dreht sich dann mit einem Ruck um. Ein Stück unter ihm, jenseits des Waldes, zieht sich eine verschneite Wiese den Hang hinab. Er kann die Häuser an ihrem Ende nicht erkennen. Die weiße Fläche verliert sich im dämmrigen Nichts.
    Die Stimme hat recht. Er kann nicht zurück.
    Wieder sieht er auf das Kind hinunter. Die Lippen haben sich inzwischen blau verfärbt, und unter seinem Kopf sickert ein schmales rotes Rinnsal in den Schnee.
    Da lacht er. Kurz. Rauh. Die Räder in seinem Gehirn laufen nun rund. Das Kind war nicht verloren! Er würde dieses Leben bewahren! Die Bilder in seinem Kopf ordnen sich, schieben sich zu einem neuen Bild zusammen.
Rosa Osiria.
    Er hebt den Säugling vom Boden auf und birgt ihn vor seiner Brust unter der Kleidung.
    Später, in der Nacht, setzt starker
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher