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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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äußerlich durch die Anzahl der Mitpilger und durch den touristischen Organisationsgrad und sorgen so für ein jeweils ganz eigenes Pilgererleben, auch in spiritueller Hinsicht: Bis Le Puy müssen sich Pilger Unterkünfte und zum Teil auch Wege selbst suchen. Mitpilger trifft man kaum.
    Der Weg ist von Einsamkeit gekennzeichnet. Bis nach Saint-Jean existieren dann Wanderherbergen auf einem markierten Weg. Wenige Menschen sind unterwegs, mit denen persönlicher Austausch möglich wird. Auf der spanischen, mit gelben Pfeilen versehenen Strecke drängen sich Pilger auf dem Weg und in die Unterkünfte. Die Aufgabe besteht nun darin, sich einzuordnen in die Pilgermenge, ohne sein ureigenes Anliegen zu verlieren.
    Diesen drei Hauptetappen weise ich jeweils archetypische Stadien einer seelischen Veränderung zu: Auf dem ersten Teil des Weges lösen sich die Pilger aus ihren bisherigen Alltagsstrukturen. Der Schwerpunkt des zweiten Streckenabschnitts liegt in der eigentlichen Wandlung — die neu gewonnene innere Freiheit ermöglicht einen Zugang zu tiefer liegenden Bewusstseinsschichten und zu unmittelbarer spiritueller Erfahrung. Zuletzt gibt die Routine des einfachen Pilgerlebens auf dem dritten Teil des Weges der Seele Raum, ihre Veränderung zu integrieren und zu stabilisieren.

    Ich bin alleine gepilgert, habe die Einsamkeit und Ruhe der Natur gesucht, um dem Spirituellen und mir ein Stück näher zu kommen. Gefunden habe ich unterschiedlichste Eindrücke: Sintflutartigen Regen in der Schweiz, die Leere des französischen Zentralmassivs, die Hitze der spanischen Hochebene; Übernachtungen bei Bauern, in Klöstern oder verlassenen Dorfschulen. Diese besonderen Momente wurden von einem stets wiederkehrenden Rhythmus begleitet: aufstehen vor Sonnenaufgang, die tägliche Wanderung zwischen 22 und 58 Kilometern, Meditation in romanischen Bauwerken entlang des Jakobswegs, die tägliche Suche nach Unterkunft, bewegende Gespräche mit anderen Pilgern.

    »Bildung ist das, was übrig bleibt, wenn wir nicht mehr bewusst daran denken, was wir erfahren haben«, steht sinngemäß bei Lord George Savile Halifax. Der Jakobsweg hat Spuren in mir hinterlassen, die immer wieder unvermittelt in meinem Alltag aufscheinen. Widerspiegelungen einer anderen Zeit in Bildern, Gefühlen, Worten und Gedanken, die oftmals im Gegensatz zur modernen Welt stehen und die es zu integrieren gilt: Innerlichkeit. Mitgefühl. Genügsamkeit. Eingebunden-Sein. Seelenwirklichkeit. In diesem Buch ordne ich — jenseits von kulturgeschichtlichen Betrachtungen und vornehmlich praxisorientierten Reiseberichten — meine ganz persönlichen Erlebnisse auf dem Jakobsweg ein in die allgemeine Erfahrungswelt von Jakobuspilgern. Dies wird an der unterschiedlichen grafischen Gestaltung der einzelnen Abschnitte deutlich: Die Vignette »Jakobsmuschel« leitet Reflexionen zur Wandlung in der Pilgerschaft ein, die Vignette »Wegweiser« eröffnet Beschreibungen der Streckenführung des Jakobswegs, und auf die Vignette »Fußspuren« folgen Streiflichter meiner persönlichen Erfahrungen auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Ich lade Sie ein, ein Stück des Jakobswegs mit mir zu gehen und die meditative Seite des Pilgerns zu erfahren: »Das Ziel ist der Weg.«

    Ultreïa,

Aufbruch
    Von Ostfildern nach Le Puy

    »Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen.«
    Aristoteles

    Dem Anfang eines jeden Jakobsweges kommt besondere Bedeutung zu, denn diesem geht oftmals ein leiser innerer Ruf voraus. Ein Ruf, der im Alltag schließlich so laut wird, dass er nicht mehr überhört werden kann: Er führt die Pilger auf den Jakobsweg. Zu allen Zeiten ist dieser Ruf aus Schwingungen geformt, die in der Tiefe der Seele durch die Notwendigkeit zur Wandlung angeregt werden. Wenn sich Pilger wirklich drei bis vier Monate von den Halt gebenden Zwängen der modernen Welt befreien und in die Unsicherheit und das Risiko des Jakobswegs aufbrechen, dann bewegen sie starke Motive — ob sie sich dieser bewusst sind oder nicht. Mit dem ersten Schritt, mit dem Pilger den Jakobsweg beginnen, haben sie bereits die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt: Sie sind wahrhaftig bereit, den weiten Weg nach Santiago und zu sich selbst zu gehen, um die erforderliche Veränderung zu erfahren. Dann machen sie sich auf, um bei sich anzukommen. Sie sind Vagabunden Gottes geworden.
    Jede wahre Pilgerreise ist eine Suche. Die bisherigen Alltagsstrukturen der Pilger können den Anforderungen ihrer Seelenwirklichkeit nicht
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