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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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gegensätzliche Zeitmaß der Pilgerschaft. Dieser erste Schritt verwirklicht ihren Aufbruchsentschluss, lässt diesen Wirklichkeit werden. Er ist deshalb so schwierig, weil mit ihm aus weltlichen Menschen endgültig Pilger werden: Ein einfaches Zurück gibt es nicht mehr. Wer den ersten Schritt tatsächlich geht, wird auch alle weiteren gehen. »Es bedarf nur eines Anfangs, dann erledigt sich das Übrige«, schreibt Sallust. Denn hinter jedem Pilger liegt eine längere Zeit des Zweifels, der Vorbereitung und des Unverständnisses, das seine nähere Umgebung ihm häufig entgegenbringt. So viele Widrigkeiten sind für eine drei- bis viermonatige Auszeit aus der modernen Welt zu überwinden, dass nur diejenigen aufbrechen, für die der Pilgerweg not-wendig geworden ist. Das ist der richtige Zeitpunkt für eine Pilgerschaft: der Moment, in dem der innere Leidensdruck keine Wahl mehr lässt. Erst dann sind Pilger bereit für den anstehenden Wandel. »Sich beeilen nützt nichts. Zur rechten Zeit aufbrechen ist die Hauptsache«, heißt es bei Jean de la Fontaine. Denn: »Die Augenblicke kommen nie zu spät und nie zu früh, sie kommen zu ihrer Zeit, nicht zu unserer, wir müssen ihnen nicht danken, wenn es einmal vorkommt, dass das, was sie vorzuschlagen haben, mit dem, was wir benötigen, übereinstimmt«, schreibt der portugiesische Nobelpreisträger José Saramago. Darin unterscheidet sich eine Pilgerschaft wesentlich von einer Wanderung: im Wunsch, Wandlung zu erfahren, geboren aus einer inneren Frage, einem inneren Ruf. Der Jerusalem-Pilger Jean Lescuyer hat auf seinem langen Fußmarsch erkannt: »Was den Pilger unterscheidet, ist weder die Dauer der Reise noch die Länge seines Weges oder das Ziel, sondern allein die geistige Haltung, mit der er diese Reise unternimmt.«
    Die erste Veränderung im Rahmen des Aufbruchs, des Abstand-vom-Alltag-Nehmens, liegt in der gegensätzlichen Bewegungsart. Zuerst ist die pure Fortbewegung in der neuen, gegensätzlichen Situation zum modernen Alltag zu bewältigen. Wie komme ich mit dem kilometerlangen Gehen zurecht? Wie werde ich mit dem Gewicht des Rucksacks fertig? Wie meistere ich die Umstellungsschmerzen des Körpers, besonders am dritten, vierten Tag? Wie finde ich Unterkunft und Nahrung? Wie arrangiere ich mich mit Wind und Wetter? Wie gehe ich mit der Tatsache um, dass noch Hunderte von Kilometern vor mir liegen und ich täglich nur ein winziges Stück vorankomme? Wie ertrage ich die Einsamkeit?
    Auf diese Fragen finden Pilger-Novizen Schritt für Schritt eine Antwort in den ersten Tagen ihrer Pilgerschaft. Sie finden sich in die neue Umgebung, in das neue Leben ein. Der Körper passt sich langsam an die Anstrengungen des Wanderns an; dem Geist und der Seele sind irgendwann klar, dass sie nicht über den nächsten Tag hinaus planen können: Der Weg nach Santiago ist viel zu weit, um übersichtlich zu sein. Jeder Tag zählt für sich. Das einzig Verlässliche ist, soweit es geht, im Hier und Jetzt zu leben, auch wenn die Vergangenheit einen immer wieder einholt. Mit jedem Schritt entfernen sich die Pilger aus ihrem bisherigen Alltag und tauchen in die Gegenwelt der Pilgerschaft ein.
    So verwirklichen sie mit diesem Schrittwechsel den Entschluss, sich ihrem inneren Ruf zu stellen. Nach den ersten Tagen der Pilgerschaft hat sich ihr Organismus an die Andersartigkeit der Fortbewegung gewöhnt, sie bewältigen die äußeren Rahmenbedingungen. Sie sind aus ihrem bisherigen Alltag herausgetreten, um andere zu werden, um diejenigen, die sie waren, hinter sich zu lassen. »Partir, c’est mourir un peu«, sagen die Franzosen: »Aufbrechen bedeutet, ein wenig zu sterben.« Oder wie der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhart schreibt: »Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist.«

    Jeder Weg, der Santiago de Compostela zum Ziel hat, ist ein Jakobsweg. Den Jakobsweg gibt es auch in geografischer Hinsicht nicht. Jedoch bildeten sich schon früh im Mittelalter Nebenflüsse und Hauptströme zum Grab des heiligen Apostels: Alte Karten zeichnen ein Netz von mehr oder weniger frequentierten Jakobswegen über Europa. Streng genommen beginnt der europäische Jakobsweg erst bei Puente la Reina, kurz hinter Pamplona in Spanien, wenn die vier Hauptströme der Pilger aus Tours, Vézelay, Le Puy und Arles sich vereinigen. Die Menschen auf diesen Wegen waren zuvor auf einer der beiden Hauptrouten gewandert, je nachdem, woher sie stammten: auf der »Niederstrass«
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