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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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ich das Kloster Beinwil erreiche. Um mich herum nur Juraberge. Die Luft riecht frisch und klar. Ort der Einsamkeit und Besinnung. Eine anmutige Schwester öffnet mir, als ich an der Klosterpforte läute. Freundlich wird mir bedeutet, dass ich Unterkunft für eine Nacht finden kann. Es läutet zur Vesper. Gregorianik. Wechselgesänge. Schweigen beim Abendessen. Danach sitzen Bruder Jakob und ich wortlos gemeinsam auf einer Bank im Kreuzgang. Rosen baden im Brunnen, senden Botschaften der Ruhe. Vigilien.
    Hohe Luftfeuchtigkeit. Mir läuft das Wasser übers Gesicht, mein Atem keucht. Der Pilgerstab stützt mein Gewicht im Rhythmus meiner Schritte, die Oberschenkel ziehen, die Waden brennen. 700 Höhenmeter steil auf die Hohe Winde. Die erste »Bergwertung«: Kategorie Eins. Oben angekommen, reißt der Himmel stahlblau auf. Einige Quellwolken, das ist alles. Was für ein herrlicher Kontrast: die leuchtend weißen Wege des Jura vor mir, die sich am Horizont vom tiefblauen Himmel absetzen.

    Sogar kurz vor Bern liegen noch Bäume im Weg, entwurzelt durch den Sturm des vergangenen Jahres. Da helfen die sonst so perfekt ausgeschilderten Wanderwege der Schweiz auch nicht weiter. Ich quere ein gesperrtes Waldstück, der Umweg würde mir zusätzliche fünf Kilometer bescheren. Mit dem Auto oder dem Fahrrad unterwegs, wäre ich durch diesen nicht wesentlich aufgehalten, für mich als Fußgänger bedeutet er jedoch eine zusätzliche Stunde. Ich klettere über, unter, zwischen umgefallenen Bäumen hindurch. Bedrohlich wiegen sich knarzend die noch stehen gebliebenen Bäume im Wind. Ich bin froh, als ich durch bin. Bern wartet.

    Seitdem ich durch die Schweiz gehe, habe ich jedes Mal, wenn ich vom Land in eine Stadt oder von der Stadt aufs Land wechsle, das Gefühl, in einer ganz anderen Welt, in einer ganz anderen Zeit zu sein. Es ist, als ob die Uhren unterschiedlich schnell liefen. Hier moderner Alltag, Wohlstand, Hektik, Oberflächlichkeit. Dort Anschluss an die Natur, Einfachheit, ein ruhigeres Tempo, mehr menschliche Nähe. Aber wahrscheinlich ist das in Deutschland genauso, und ich habe es bisher nicht bemerkt.

    Im Schwarzwassertal hat es angefangen: Drohend bedeckte sich der Himmel mit einer dunkelgrauen Wolkenschicht. Endzeitstimmung, ein nasskalter Wind kommt auf, die Luft riecht nach Waldboden. Blauschwarze Schleier verwischen die Sicht. Es regnet, als ich Schwarzenburg erreiche. Nein, es regnet nicht, es schüttet. Meine Brille beschlägt, das kalte Wasser peitscht mir ins Gesicht. Die Darstellung des Hühnerwunders an der Jakobskapelle in Tafers sehe ich nur aus den Augenwinkeln, ich bin heilfroh, als ich endlich Zuflucht in einem Gasthaus finde.

    Am nächsten Morgen sieht es nicht besser aus. Und nun? Hierbleiben? Kommt nicht infrage: Weiter! In Fribourg nehme ich nur die Kathedrale wahr. Von innen. Ein Moment ohne Dauerregen. Über die alte Brücke Sainte-Apolline: Die Fußspuren der Jakobuspilger aus dem Mittelalter zeichnen sich auf dem Brückenpflaster ab. Kloster Hauterive. Ich bin jetzt schon klatschnass und klamm, meine Wanderschuhe geben bei jedem Schritt schmatzende Geräusche von sich. Es regnet, regnet, regnet. Irgendwann schaltet meine Aufmerksamkeit ab. Trance. Den Kopf zwischen den Schultern, den Blick auf den Boden gerichtet, hebe ich ihn nur noch an Wegkreuzungen, um Markierungen zu suchen. Mir gehen die verrücktesten Sachen durch den Kopf: schmerzhafte und schöne Momente meiner Vergangenheit, unterlegt von Up-tempo-Charlie-Parker-Solos und immer wieder: Ultreïa. Weiter. Weiter. Nach Chavannes-sous-Orsonnens wird aus dem Dauerregen eine Sintflut. Ich folge einem zum Bach gewordenen Pfad abwärts, der von einem Zaun begrenzt wird. Mir schießt das Wasser über die Füße. Auf den Zaunpfählen sitzen auf Armeslänge entfernt große Greifvögel mit Schnäbeln und Krallen wie aus Messerstahl und schauen mich mit giftigen Augen an. Bei dem Regen können selbst sie nicht mehr fliegen. Mir ist unwohl, vorsichtig gehe ich an ihnen vorbei. Am Konvent La Fille-Dieu ist kein Lebenszeichen zu sehen, ich werde noch nach Romont müssen. Wieder in den Regen hinaus. Im Abendlicht erreiche ich die Stadt. Doch plötzlich legt sich der Wind, der Himmel reißt auf, ein Blick zurück: Ein doppelter Regenbogen schillert über dem Konvent. Atemlos hebe ich zum ersten Mal an diesem Tag frei meinen Kopf, durchflutet von der Erkenntnis: Schönheit und Mühsal können nahe Verwandte sein.

    Die zwei Fußspuren auf dem
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