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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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Compesières aus dem 13. Jahrhundert passieren. Zwischen dem Mont Salève zu ihrer Linken sowie den Ausläufern des Jura zu ihrer Rechten gelangen sie durch steile Hohlwege, dann auf einer Hochebene bis zum Schloss von Chaumont und schließlich nach Frangy. Bis hierher sind sie ungefähr der Route des Hermannus Künig von Vach, die dieser in seinem mittelalterlichen Pilgerführer beschreibt, gefolgt.
    Die Pilger setzen ihren Weg weiter fort, immer auf und ab, über Höhenwege der Rhône entlang, am historischen franco-savoyardischen Grenzstädtchen Seyssel vorbei. Lange folgen sie der malerischen Rhône bis Chanaz, gehen vorbei am Klappern des Wasserrades einer alten Nussölmühle und steigen schließlich steil in die Weinberge von Savoyen auf. Sie genießen den weiten Blick aus der Höhe über die Rhône, bevor sie längs der Kante gehen, steil absteigen und den Flussauen folgen, bis sie in der romanischen Kirche von Yenne einen Moment der Versenkung genießen.
    Wieder steigen die Pilger steil auf. In großer Höhe oberhalb der Rhône folgen sie dieser auf einem »Balkonweg« und erfreuen sich der erhebenden Aussicht. In Saint-Genix überqueren sie den Guiers, am Fluss entlang und durch das Hügelland gelangen sie an den Rand des Isèretals. Auf dessen rechter Talschulter wandernd, bewegen sie viele Kilometer lang das dunkle Innere kleiner Kirchen und Kapellen sowie das romanische Karmeliterinnen-Kloster in Saint-Romain-de-Surieu. Sie gehen durch ausgedehnte Obstplantagen, und plötzlich öffnet sich das Rhônetal vor ihnen. Auf der Brücke bei Chavanay überqueren sie den blaugrünen Fluss.
    Nun geht es fast 900 Höhenmeter hinauf zum Tracol, dem Pass, der das Rhônetal mit dem vulkanischen Bergland um Le Puy verbindet. Die Pilger kommen an einer alten Kapelle vorbei, die früher Station auf dem Jakobsweg war. Ein Jakobsbruder restauriert sie mittlerweile liebevoll nach seiner Rückkehr aus Santiago. Immer weiter gehen die Pilger bergan, durch Obstplantagen und Felder, durch kleine charmante Dörfer, auf einer ehemaligen Eisenbahntrasse bis zur in die Passhügel geduckten Herberge am Tracol.
    Die Wege werden schwarz vom vulkanischen Gestein, die Pilger wandern durch sanftes Hügelbergland, immer wieder ragen erloschene Vulkankegel auf. Ein kleiner Abstecher führt in das anmutige Queyrières mit seinen oktogonalen Basaltorgeln. Der Jakobsweg zieht sich an den alten Kirchen von Saint-Julien-Chapteuil und Saint-Germain-Laprade vorbei bis zum »Montjoie«, dem Punkt, von dem aus Pilger voll Freude zum ersten Mal Le Puy sehen. Bei Brives-Charensac überqueren sie die alte Brücke, welche sie direkt in die mittelalterliche Stadt führt. Sie besuchen St. Michael auf der Felsnadel, bewundern das Eingangsportal des romanischen Baus mit seinen mozarabischen Stilelementen. Durch das große Tor der Kathedrale steigen sie die steile Treppe hoch, direkt vor den Altar, hinein in die Aura der schwarzen Madonna.
    Wenn Pilger sich im romanischen Kreuzgang mit seinen ornamental gesetzten verschiedenfarbigen Steinen sammeln, haben sich ihr Körper, ihr Geist und ihre Seele von ihrem bisherigen Alltag gelöst. Sie fühlen und spüren anders. Sie nehmen ihre Umwelt und ihre inneren Empfindungen wesentlich direkter wahr. Sie sind bereit, auf dem Weg sich selbst zu begegnen.

    Genau in dem Moment, in dem ich hinter Genf über die Grenze nach Frankreich gehe, hört es endlich auf zu regnen, und der Himmel öffnet sich mit Vertrauen einflößendem Blau. Nach fünf Tagen Sintflut ein gutes Omen. Wie ausgeschnitten stehen die dunklen Konturen der Johanniter-Komturei in Compèsieres gegen den blauen Nachmittagshimmel. Sonnenblumen leuchten davor in nassem Tiefgelb. Vive la France! — Ich komme!

    Die Wegkreuze sind wieder da! Wenn man plötzlich wiederfindet, was fehlte, merkt man erst, was man daran hat. In der calvinistisch geprägten welschen Schweiz waren sie verschwunden. Dieser Weg hier fühlt sich gut an: Hohl- und Höhenwege, subalpine Landschaft, eine wenig besiedelte Gegend, vor mir der Jura, schönes Wetter. Und mit den Wegkreuzen ist aus dem Wanderweg auch wieder ein Pilgerweg geworden. Der Untergrund ist zwar noch aufgeweicht und gleicht mehr dem Vorratslager einer Töpferei als einem begehbaren Pfad — aber wenigstens regnet es nicht mehr. Der Rest wird schon werden.

    Von Weitem sehe ich sie, kurz nach Frangy unter einem großen Wegkreuz: zwei Pilger, die Rast machen. Ich komme näher: Anita und Ingrid, meine beiden
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