Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
Vom Netzwerk:
Waldgebiet hinter Denkendorf. Spätvormittags dann, als ich in der hochstehenden Sonne oberhalb Nürtingens am Rand des Neckartals ankomme, lächelt mich maliziös ein Wegweiser an: »Tübingen: 30 Kilometer«. Wie bitte? — Die erste Etappe gebe ich auf keinen Fall auf, es wäre ein allzu schlechtes Omen. Die Beine werden immer schwerer. Fast 50 Kilometer sind es am Abend bis zu meinem Etappenziel geworden, die letzten Kilometer reine Quälerei. Den Autor des Buches röste ich gedanklich über heißem Feuer. Das fängt ja gut an...

    »Dass es so etwas gibt?« Es ist fast Mitternacht, als ich am Ende meiner Kräfte in Rottweil ankomme. Dunkel, Kälte, Regen. In drei Tagen bin ich fast 130 Kilometer gelaufen. Ich muss in Zukunft langsamer gehen, auch wenn es mich nach Santiago treibt, Rennen hat keinen Sinn, das spüre ich nun körperlich. Wo übernachte ich heute? Die Jugendherberge ist verschlossen. Der Wirt in der Kneipe gegenüber fährt mich unwirsch an, als ich nach einer Übernachtungsmöglichkeit frage. Und nun? Zurück zum Hotel »Sternen«, dessen Personal mir so freundlich den Weg zur Jugendherberge gezeigt hatte. Die Hotelière schaut mir mitfühlend in die Augen und gibt mir ein Zimmer »zum Jugendherbergspreis«, wie sie sagt. »Dass es so etwas gibt?« So liege ich nun in einem Romantik-Hotel in einem antiken Kastenbett und horche in meinen Körper hinein: Symphonie der totalen Erschöpfung. Dumpf geben die Muskelschmerzen in den Oberschenkeln den Takt vor. Der ganze Körper zittert vor Entkräftung leise Tremoli. Hüft- und Kniegelenke wimmern an- und abschwellend. Die Schultern schmerzen vom ungewohnten Gewicht des Rucksacks mit pochenden Einwürfen.
    Die stechenden Blasen an den Füßen gehen im Gesamtklang unter. Selten habe ich mich so lebendig gefühlt... Morgen wird die Hotelière mir noch Wegproviant in die Seitentaschen meines Rucksacks stecken, und als ich bezahlen will, wird sie lächelnd abwehren und sagen: »Pilger, geh!« »Dass es so etwas gibt?«

    Und dann nachts, bei einem Bauern in Trasadingen, greift die Trauer einer verwehten Liebe nach mir. Sie fehlt. Noch viele hundert Kilometer.

Sichtwechsel
    Von Basel nach Genf

    »Der Langsame sieht mehr.«
    Sten Nadolny

    Innerhalb des Aufbruchprozesses von Pilgern — ihrer Loslösung aus ihrem bisherigen Alltag — verändert sich nach der körperlichen Umstellung auf die Pilgerschaft nun auch ihre Sichtweise, ihre Wahrnehmung der Umwelt. Die Einsamkeit, ihre relative Langsamkeit in der neuen Umgebung, der Natur, lassen sie ihre Außenwelt intensiver, farbenprächtiger, detailreicher wahrnehmen. Sie entledigen sich »des neuen Lasters des modernen Menschen: der Schnelligkeit«, wie Aldous Huxley schreibt.
    Mit dieser veränderten Wahrnehmung brechen sie jeden Tag zu zwei neuen Horizonten auf: äußerlich zu ihrer Wegstrecke, innerlich zu der Intensität ihrer Erfahrung. Jeden Tag erweitern sie ihren Gesichtskreis. Das, was außen ist, dringt tiefer in sie ein: die Natur, Begegnungen am Wegesrand. »Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr. Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge«, befindet der »Spaziergänger nach Syracus«, Johann Gottfried Seume. Im Alleinsein sind Pilger nicht abgelenkt von Sorgen und Nöten ihrer Nächsten und stellen sich nicht dar. Sie wandern, wie sie gerade sind, sie begegnen in ihrem So-Sein der Außenwelt und erfahren diese und sich dadurch neu. Deshalb ist nach Hermann Hesse »Einsamkeit der Weg, auf dem das Schicksal den Menschen zu sich selber führen will«.
    Die Veränderung in der Wahrnehmung der Außenwelt wandelt Pilger noch in einer zweiten Hinsicht: Die auf sie einstürmenden neuen Sinneseindrücke fordern und fördern ihre unmittelbare Aufmerksamkeit. Diese öffnen ihr von der Grundfrage umlagertes Bewusstsein — das, was sie auf den Weg gerufen hat, ist plötzlich fern. Sie reißen die verriegelten Fenster auf, und mit der neuen frischen Luft strömt Abstand zum bisherigen Alltag in Geist und Seele. Der spanische Philosoph José Ortega у Gasset schreibt in diesem Zusammenhang: »Man begreift, dass Entfernung, Reisen eine gute Kur sind. Sie sind Heilmittel der Aufmerksamkeit... Durch Reisen werden wir gezwungen, aus uns selbst herauszugehen und tausend Probleme zu erledigen; sie lösen uns aus unserer alltäglichen Fassung heraus und bringen uns mit tausend ungewohnten Gegenständen in Berührung; so sprengen sie den magischen Ring und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher