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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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mehr genügen, sie sind so brüchig geworden, dass die Notwendigkeit zur Umorientierung immer deutlicher durch sie hindurchscheint. Es gilt, eine neue und andere Ausrichtung für ein authentischeres Leben zu finden.
    Gewiss gibt es — wie im Mittelalter — auch vordergründig weltliche Motive, die Pilger auf den Jakobsweg führen. Bei Gesprächen in Pilgerherbergen wird jedoch schnell deutlich, dass oftmals tiefe seelische Not, innere Klärung an Übergängen von Lebensphasen oder spirituelle Suche die wahren Beweggründe für den Gang nach Santiago de Compostela sind: So können einige Pilger ihre Richtung im Leben nicht mehr sehen, weil sie grundsätzlich nichts mehr erkennen können. Betäubt und blind von persönlichem Leid geht jeder Blick für eine neue Lebensrichtung ins Leere. Sei es die Trauer über den Verlust eines geliebten Menschen, sei es der Schmerz einer zerbrochenen Liebesbeziehung oder die Angst nach der Kündigung einer Arbeitsstelle. Für sie ist der Jakobsweg ein Weg heraus aus unmittelbarer Not.
    Sehr viele Jakobuspilger stehen vor einem neuen Lebensabschnitt. Sie suchen in der Konfrontation mit sich selbst auf dem Weg einen Klärungsprozess und Orientierung für die vor ihnen liegende Lebensaufgabe. Zum einen sind dies junge Pilger an der Schwelle zum Erwachsenenalter, zum anderen ältere Pilger, die sich auf ihren Lebensabend vorbereiten. Die Jüngeren folgen dabei einer uralten Tradition keltischer Völker: Vor der christlichen Pilgerfahrt galt der Fußmarsch zum Kap Finisterre als Initiationsritus, als Übergangsritual in die Erwachsenenwelt. Knaben gingen der untergehenden Sonne nach, geradlinig westwärts bis zum »Ende der Welt«, zu dem Punkt, an dem ihre »Knabenseele« mit dem Versinken der Sonne im Meer stirbt. Daraufhin kehrten sie als Männer zurück.
    Die meisten Pilger verbindet jedoch eine Suche nach dem Spirituellen, nach Kontakt mit dem Numinosen. Sie fühlen intensiv den gleichmäßigen Schmerz des modernen Alltags, einer entzauberten Welt voll von Machbarkeitsidealen und blindem Sachzwangdenken. Sie leiden an ihrer spirituellen Unterernährung und daran, dass sie ihre innere Leere mit den Verführungen und Süchten der modernen Welt zuschütten. Pilgern heißt, sich dieser Leere bewusst zu stellen. Mit der Erfahrung der inneren Wüste ist es möglich, seinen ureigensten Rhythmus wieder zu spüren. Einen Rhythmus, der nicht vom mechanistischen Takt der industriellen Leistungsgesellschaft vorgegeben ist, sondern in einer lebendigen Einheitserfahrung mit der Natur und in spirituellem Empfinden gründet. Jeder Jakobsweg ist auch ein Weg nach innen, ist ein »In-sich-Gehen«, ein »Sich-selbst-Erfahren«, ein »Sich-eingebettet-Wissen« in Zusammenhänge, die über das eigene Ego hinausweisen. Das Wesentliche ist, wieder Vertrauen zu sich und zu dem, was über den Menschen und seinen Verstand hinausreicht, zu gewinnen. Keiner kann konkret vorhersagen, in welcher Weise und mit welcher Intensität ihn die Pilgerreise verändern wird — aber sie wird ihn verändern.
    Bei all diesen Motiven, die Gründe für eine Jakobuspilgerschaft sein können, gemahnt der innere Ruf, der Pilger auf den Jakobsweg führt, zu lernen, sich anders zu bewegen, anders zu sehen und anders zu spüren als bisher. Am Anfang des Jakobswegs steht ein zweifacher Aufbruch, in räumlicher und in innerer Hinsicht: Wenn Pilger nach Santiago aufbrechen, treten sie heraus aus ihrem alten Ich und ihren bisherigen Lebensstrukturen — und brechen diese damit auf, um sich wandeln zu können.
    Wie für viele Pilger aus dem süddeutschen Raum und der Schweiz steht auch für mich die erste große Etappe bis nach Le Puy im Zeichen dieses Aufbruchs. Denn bis Le Puy ist der Jakobsweg für moderne Pilger nicht so gut erschlossen: Er ist nicht immer gekennzeichnet, man muss sich seine Unterkünfte jeden Abend selbst suchen. Auch Körper, Geist und Seele haben sich erst nach ungefähr vier bis fünf Wochen Pilgerschaft bis Le Puy auf das Pilgern eingestellt: Dann sind die Beine und der Kreislauf an die Belastung langer Tagesmärsche gewöhnt; die Gedanken und Gefühle haben die Strukturen des zurückliegenden modernen Alltags verlassen.

Schrittwechsel
    Von Ostfildern nach Basel

    »Die Entfernung ist unwichtig.
    Nur der erste Schritt ist schwierig.«
    Marquise du Deffand

    Schrittwechsel — mit dem ersten Schritt auf den Jakobsweg treten Pilger aus der Alltagshektik der modernen Leistungsgesellschaft heraus in das
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