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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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demnach nicht weiter wie bisher. Sie finden zwar die sichere Ruhe des inneren und äußeren Abschlusses ihrer Pilgerreise in spirituellen und weltlichen Ankunftsritualen am Zielort. Sie werden jedoch als Verwandelte, als Neue umkehren müssen: In die Unsicherheit eines neuen Alltags, der außerhalb der Pilgerschaft liegt. Ein neuer Weg beginnt. Oder wie Pater Anselm Grün schreibt: »Wir brauchen die Erfahrung des Ankommens und des Angekommenseins, um uns immer wieder neu auf den Weg zu machen.«
    Der Weg von Santiago de Compostela westwärts bis zum Kap Finisterre steht im Zeichen dieses Endpunktes einer Pilgerfahrt. Bereits im Mittelalter zog es viele Pilger weiter zum »Ende der Welt«, dem westlichsten Punkt Europas. Sie folgten dem uralten Initiationsweg bis zum Äußersten. Bis zum Moment, in dem die Sonne im Meer stirbt und mit ihr ihre alte Persönlichkeit. Sie kehrten als Neugeborene zurück. Nach den vielen Kilometern der inneren und äußeren Wandlung bis nach Santiago de Compostela und dem touristischen Gedränge um das Grab des heiligen Apostels erinnert der Weg nach Finisterre wieder an die Anfänge der Pilgerreise: Kaum Pilger, einfache schmale Wege, wenig Übernachtungsmöglichkeiten. Die wiedergewonnene Einsamkeit und Einfachheit unterstützen die Jakobuspilger, ihren langen Pilgerweg meditativ zu beschließen. Am Kap Finisterre endet der Jakobsweg am Rand der alten Welt. Wenn Pilger nach archaischem Ritual ihre Kleider verbrennen, weht der Wind die Asche ihrer alten Identität über das Meer, der untergehenden Sonne entgegen.

    Weg hier, nur raus hier! Wieder ein früher Morgen, vielleicht sechs Uhr. Die Straßenlaternen von Santiago werfen ihre Heiligenscheine in den galicischen Nebel. Kein Mensch ist unterwegs, der Platz vor dem Obradoiro atmet leer gefegt den Frieden der Nacht, bevor ihn in einigen Stunden wieder Souvenirhändler, Pilger und Touristen überfluten. Auch heute werden Reisebusse wieder unermüdlich Menschenmassen in die Stadt speien. Stählernes Graublau auf der Barockfassade der Kathedrale, die Morgenluft strömt kühl und feucht in meine Lungen. Die letzten 90 Kilometer warten auf mich. Das Ziel ist dort, am Ende der Welt.

    Kaum habe ich Santiago verlassen, fühle ich mich wieder als Pilger. Nicht wie ein moderner Jakobuspilger auf dem Camino zwischen Roncesvalles und Santiago, sondern wie vorher: kleine, schmale Wege mit beinahe schon privater Atmosphäre.

    Überall Nebel, fast ein wenig unheimlich. Irgendein europäisches Projekt hat es sich auch hier zur Aufgabe gemacht, den Weg mit richtungsweisenden Keramikmuscheln zu markieren, welche die verbleibenden Kilometer abwärts zählen. Wie wenige Pilger diesen Weg gehen, sieht man daran, dass die Keramikmuscheln noch an ihrem Platz hängen.

    Ich bin wieder allein unterwegs. Nur das Zwitschern der Vögel und der Wind, der durch die Bäume streicht, begleiten mich. Der Klang meiner Schritte auf dem Waldboden. Eukalyptus in der Nase. Es schließt sich der Kreis zum Anfang meines Weges: Einsamkeit, Ruhe, Natur, schmale Wege, uralte Wegkreuze. Ja, jetzt gehe ich auf das Ziel zu.

    Nach ungefähr acht Kilometern hole ich einen Mann ein, der vor mir läuft. Er soll der Einzige bleiben bis Finisterre. Schnell wird klar, dass wir beide aus Süddeutschland stammen. »Und«, fragt mich mein Gefährte, »wo bist du losgelaufen?« »In Ostfildern bei Stuttgart.« Er fragt interessiert weiter: »Welchen Weg hast du von dort genommen?« »Das Neckartal aufwärts, dann nach Waldshut. Ich bin der Route aus einem Pilgerführer über Jakobswege in Süddeutschland gefolgt, der gerade erst veröffentlicht worden ist. Schöne Streckenführung, sehr gut recherchiert. Da hat sich jemand wirklich Mühe gemacht. Nur an einer einzigen Stelle nicht: bei der Bestimmung einer Kilometerangabe ganz am Anfang. 50 Kilometer statt 25! Meine Füße: ein Schlachtfeld! Der Autor hätte mal meine Blasen haben sollen!« »Nun«, sagt er, »dann werde ich das wohl noch korrigieren müssen!« — Ich laufe an der Seite des Buchautors! Der Kreis schließt sich tatsächlich...

    Der letzte Abend auf dem Weg: Die Stimmung ist ruhig und meditativ. Wie schon so oft genieße ich es, alleine in den Abend zu laufen. Die goldene Sonne im Gesicht und den kühlen Wind den die Nacht als Vorboten vorausschickt, auf den Unterarmen. »Man sieht den Wegen im Abendlicht an«, hat Robert Walser geschrieben, »dass sie Heimwege sind.«

    Als ich in Maroñas eintreffe, ist es bereits
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