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Das Ziel ist der Weg

Das Ziel ist der Weg

Titel: Das Ziel ist der Weg
Autoren: Ulrich Hagenmeyer
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dunkel. Gespenstisch ziehen im fahlen Licht vereinzelter Straßenlaternen Nebelschwaden durch das Dorf. Keine Ahnung, wo sich die alte Dorfschule befindet, in der ich laut Pilgerführer schlafen kann. Eine Bar. Im schummrigen Innern sitzen Bauern am Stammtisch mit finsteren, ausdruckslosen Gesichtern. Sie sehen aus, als würden sie demnächst eine weitere Kerbe mit einem großen Messer in den Holztisch vor ihnen machen — nachdem sie einen harmlosen Pilger ausgeraubt, ermordet und verscharrt haben. Mich fröstelt. Als ich sie nach der Schule frage, deuten sie zum Ende des Dorfes: Sie läge knapp außerhalb. In absoluter Dunkelheit erreiche ich das Gebäude. Zu meiner Überraschung ist die alte Schule wirklich alt. Das halbe Dach fehlt, ebenso einige Fenster. Auf dem Boden liegen alte Hefte, vielleicht aus den Fünfzigerjahren. Verwaiste Schultische, ein paar einsame Stühle, als ich durch die Tür eintrete. Es fängt an zu regnen. Wohin bin ich geraten?

    Schon von Weitem sehe ich den Traktor, der mir in gemächlichem Tempo entgegenkommt, als ich mittags ein Stück Landstraße queren muss. »¡Hola!«, grüßt mich freundlich der Bauer, der Rest ist unverständliches Gallego. Er bedeutet mir mit einer Geste, stehen zu bleiben. Seine Augen strahlen vor Freundlichkeit, als er einen großen Kasten öffnet, der hinter ihm auf der Ladefläche eines kleinen Anhängers festgezurrt ist: frische Bienenwaben. Drei, vier große Stücke bricht der Bauer heraus und freut sich königlich, als er sie in meine geöffneten Hände legt. Die Sonne scheint und mir rinnt der süße Honig durch die Finger in den Mund und über mein Kinn. Wohin bin ich geraten?

    Meer! Endlich Meer! Nach 2600 Kilometern endlich Meer! In die Bucht hinunter, die Kleider vom Leib, Kälte, Wasser, überall. Welche Erlösung, welche Taufe! Staub und Schweiß von Millionen Schritten verschmelzen mit den Weiten des Atlantischen Ozeans. Meer! Mehr! Meer!

    Die Sonne steht schon tief, als ich zum Kap Finisterre hinaufgehe. Neben dem Leuchtturm steht der letzte Wegweiser: »0,000 km« Endpunkt. Hier geht es wirklich nicht mehr weiter. Die Keramikmuschel steht auf dem Kopf, sie weist den Weg zurück. Ruhe und Frieden. Nur wenige Menschen. Mit meinen Kleidern verbrennt ein Stück Vergangenheit. Ich werde neu beginnen müssen. Wehmütig sehe ich der Sonne zu, wie sie im Westen im Meer versinkt. »Oculi mei semper ad Dominum...« Für einen Moment halten sich noch ein paar Sonnenstrahlen am Horizont fest. Dann bricht die Nacht herein. Mein Jakobsweg ist zu Ende.

Santiago ist der Anfang
    des Jakobsweges
    Nachwegs

    »Santiago ist nicht das Ziel des Jakobswegs, es ist der Anfang.«
    Pilger Sprichwort

    Die vielleicht schwerste Etappe des Jakobswegs liegt für moderne Pilger oftmals erst nach Santiago. Es ist eine Etappe ohne zählbare Kilometer, ohne mittelalterliche Sehenswürdigkeiten, ohne die Gemeinschaft anderer Pilger: In Santiago beginnt derjenige Jakobsweg, der zum Ziel hat, den vollzogenen Seelenwandel in die moderne Alltagswelt zu integrieren.
    Das Rad seelischer Entwicklung dreht sich erneut im immer gleichen Zyklus: Aufbruch, Wandlung, Stabilisierung. Diesmal ist es der Pilgeralltag, welcher abrupt aufgebrochen wird. Die schnelle moderne Welt steht in schroffem Gegensatz zu Ruhe, Einsamkeit, respektvollem Miteinander. Nach Wochen in der Gegenwelt der Pilgerschaft scheinen Hektik, Betriebsamkeit und menschliche Gleichgültigkeit unwirklich. Vielen Pilgern fällt es zunächst schwer, sich wieder in der »normalen Welt« zurechtzufinden. Die Erfordernisse des Überlebens in der modernen Gesellschaft sorgen jedoch schnell für einen zeitgenössischen Tagesablauf: Die Pilger wechseln aus ihrem Pilgeralltag in den der modernen Welt. Von hier ab beginnt erneut ein langer innerer Weg der Wandlung. Die in der Pilgerschaft noch lebbaren Antworten auf den Ruf, der die Pilger auf den Jakobsweg geführt hat, lassen sich häufig nicht einfach in den heutigen Alltag übertragen. Im Gegenteil: Nun scheinen sie aufgesetzt, nicht angemessen, nicht zu verwirklichen. Das Umfeld der zurückgekehrten Pilger spielt das neue, das »bessere« Spiel nicht mit. Enttäuschung. Rückschritt. Alte Strukturen. In der Tiefe der Seele jedoch wirkt die seelische Wandlung der Pilgerschaft als reales Bild beständig weiter. Fast unmerklich drängt in einem langen und langsamen Verinnerlichungsprozess Schritt für Schritt gewandelte Weitsicht in das tägliche Tun und wird Wirklichkeit, weil sie
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