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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Autoren: Eric Kandel
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Mehrere Jahrzehnte, bevor Cézanne begann, drei Dimensionen zu zweien zu verschmelzen, erweckte Manet hier bereits einen Eindruck von Flächenhaftigkeit, weil er seinem Bild nur wenig Tiefe oder Perspektive verlieh.

    Abb. 1-6.
Édouard Manet, Das Frühstück im Grünen (1863).
Öl auf Leinwand.
    Zu den späteren Errungenschaften der Wiener Kunst der Moderne äußerte sich Ernst Gombrich folgendermaßen:
    Kunst ist eine Institution, der wir uns immer dann zuwenden, wenn wir uns schockieren lassen wollen. Dieses Bedürfnis empfinden wir, weil wir spüren, dass ein gelegentlicher heilsamer Schock uns guttut. Sonst würden wir allzu leicht in einen Trott geraten und neuen Herausforderungen, die das Leben uns stellt, nicht mehr gewachsen sein. Die Kunst hat also, anders gesagt, die biologische Funktion einer Probe, eines Trainings in mentaler Gymnastik, das uns hilft, mit dem Unerwarteten umzugehen. 4
    Die Moderne in Wien war durch drei Hauptmerkmale gekennzeichnet. Das erste war die neue Sichtweise, den menschlichen Geist im Grunde als von Natur aus irrational zu betrachten. In einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit stellten die Wiener Vertreter der Moderne die Vorstellung infrage, dass die Gesellschaft auf dem rationalen Verhalten rationaler Menschen aufbaue. Vielmehr, so behaupteten sie, seien die alltäglichen Handlungen jedes Einzelnen von unbewussten Konflikten geprägt. Indem sie diese Konflikte an die Oberfläche holten, konfrontierten die Modernisten konventionelle Einstellungen und Werte mit einer neuen Art zu denken und zu fühlen und fragten sich, was die Wirklichkeit ausmachte, was unter der oberflächlichen Erscheinung von Menschen, Objekten und Ereignissen verborgen lag.
    Zu einer Zeit, in der man anderswo eine noch größere Kontrolle über die äußere Welt, die Produktionsmittel und die Verbreitung von Wissen erlangen wollte, wandten die Wiener Vertreter der Moderne also ihren Blick nach innen und versuchten, die Irrationalität der menschlichen Natur zu ergründen und zu verstehen, inwiefern sich irrationales Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen widerspiegelt. Sie entdeckten, dass die Menschen unter ihrer eleganten, schönen Politur nicht nur unbewusste erotische Gefühle verbergen, sondern auch unbewusste aggressive Impulse, die sich gegen die eigene Person, aber auch gegen andere richten. Freud nannte diese dunklen Impulse später den Todestrieb.
    Die Entdeckung der großenteils irrationalen Natur unseres Geistes rief die möglicherweise radikalste und einflussreichste der drei geistigen Revolutionen hervor, die, wie Freud festhielt, bestimmten, wie wir uns selbst und unseren Platz im Universum sehen. Die erste dieser Revolutionen, die im 16. Jahrhundert erfolgte kopernikanische Revolution, offenbarte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, sondern ein kleiner Satellit, der die Sonne umkreist. Die zweite, die Darwin’sche Revolution des 19. Jahrhunderts, offenbarte, dass wir nicht gottgleich oder einzigartig erschaffen wurden, sondern uns im Prozess der natürlichen Selektion aus niederen Tieren entwickelt haben. Die dritte große Revolution, die in Wien um 1900 erfolgte Freud’sche Revolution, offenbarte, dass wir unsere Handlungen keineswegs bewusst steuern, sondern vielmehr von unbewussten Motiven getrieben werden. Aus dieser dritten Revolution ging später die Vorstellung hervor, dass sich die menschliche Kreativität – jene Kreativität, die Kopernikus und Darwin zu ihren Theorien führte – aus dem unbewussten Zugang zu fundamentalen, unbewussten Kräften speist.
    Anders als die kopernikanische und die Darwin’sche Revolution kam die Erkenntnis, dass unsere geistigen Prozesse großenteils irrational sind, mehreren Denkern zur gleichen Zeit, unter ihnen Mitte des 19. Jahrhunderts Friedrich Nietzsche. Freud, der von Darwin wie auch von Nietzsche stark beeinflusst wurde, wird mit der dritten Revolution am häufigsten in Verbindung gebracht, weil er ihr profundester und eloquentester Vertreter war. Dennoch machte er die Entdeckung nicht allein – seine Zeitgenossen Schnitzler, Klimt, Kokoschka und Schiele entdeckten und erforschten ebenfalls neue Aspekte unseres unbewussten Geisteslebens. Sie verstanden Frauen besser als Freud, insbesondere die Natur der weiblichen Sexualität und des Mutterinstinkts, und sie erkannten deutlicher als er, wie wichtig die Bindung eines Säuglings an seine Mutter ist. Und sie erkannten sogar die Bedeutung des Aggressionstriebs
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