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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Autoren: Eric Kandel
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Volkes, insbesondere der Mittelschicht.
    1848 erhob sich Österreichs liberale Mittelschicht und zwang die absolute, nahezu feudale Monarchie mit Kaiser Franz Joseph an der Spitze, demokratischere Wege einzuschlagen. Die anschließenden Reformen sahen Österreich als eine progressive, konstitutionelle Monarchie nach dem Vorbild Englands und Frankreichs und waren von einer kulturellen und politischen Partnerschaft zwischen der aufgeklärten Mittelschicht und der Aristokratie geprägt. Diese Partnerschaft sollte den Staat reformieren, das weltliche kulturelle Leben der Nation fördern und eine freie Marktwirtschaft begründen – alles unter der modernen Prämisse, dass Vernunft und Wissenschaft an die Stelle von Glauben und Religion treten würden.
    In den 1860er-Jahren spürten die meisten Österreicher, dass ihre Nation in einem Wandlungsprozess begriffen war. In Verhandlungen mit dem Kaiser war es der Mittelschicht gelungen, Wien in eine der schönsten Städte der Welt zu verwandeln. Als Weihnachtsgeschenk für die Bürger Wiens ordnete Franz Joseph 1857 an, die alten Mauern und Befestigungen um das Stadtzentrum einzureißen, um Platz für die Ringstraße zu schaffen, einen prächtigen Boulevard, der das Zentrum umschließen sollte. Zu beiden Seiten der Ringstraße sollten prachtvolle öffentliche Gebäude errichtet werden – Parlament, Rathaus, Oper, altes Burgtheater, Kunsthistorisches Museum, Naturhistorisches Museum und Wiener Universität – sowie Palais für die Aristokratie und große Wohngebäude für die wohlhabendere Mittelschicht. Zugleich sorgte die Ringstraße für eine bessere Anbindung der umgebenden Stadtteile – mit Geschäftsinhabern, Händlern und Arbeitern – an das Zentrum.
    Besonders tiefgreifende Auswirkungen hatten die progressiven Ansichten von Mittelschicht und Kaiser auf die jüdische Gemeinde. Im Jahre 1848 wurden jüdische Gottesdienste legalisiert und die Sondersteuern für Juden abgeschafft. Darüber hinaus durften Juden erstmalig berufliche und politische Karrieren einschlagen. Mit den Staatsgrundgesetzen von 1867 und dem Interkonfessionellen Gesetz von 1868 erhielt die jüdische Gemeinde einen zivilrechtlichen Status, der sie auf eine Stufe mit den anderen, meist katholischen, Österreichern stellte. Während dieser kurzen Epoche der österreichischen Geschichte war Antisemitismus gesellschaftlich inakzeptabel. Neben der neuen Freiheit religiöser Praktiken führten diese Gesetze auch die staatliche Bildung ein und erlaubten standesamtliche Trauungen zwischen Christen und Juden, die zuvor verboten waren.
    Zuletzt wurden staatlich verordnete Reisebeschränkungen innerhalb des Habsburgerreiches, die für jeden galten, 1848 gelockert und 1870 abgeschafft. Das pulsierende kulturelle Leben und die wirtschaftlichen Möglichkeiten Wiens zogen begabte Menschen, vor allem Juden, aus allen Teilen des Reiches an. Demzufolge stieg die Zahl der Juden in Wien zwischen 1869 und 1890 von 6,6 Prozent der Stadtbevölkerung auf 12 Prozent, was eine gewaltige Bedeutung für die Entwicklung der Moderne hatte. Die Abschaffung der Reisebeschränkungen verbesserte auch die soziale und kulturelle Mobilität von Gelehrten und Wissenschaftlern. Wien profitierte von einem Zufluss talentierter Personen mit unterschiedlichem religiösen, gesellschaftlichen, kulturellen, ethnischen und schulischen Hintergrund. Dies führte gemeinsam mit der Modernisierung der Bildung dazu, dass sich die Universität Wien zu einer großen Forschungsuniversität entwickelte. Die daraus resultierende Umwälzung in Wissenschaft und Technik schuf eine mitreißende, sich wechselseitig beeinflussende intellektuelle Atmosphäre, die maßgeblich zum späteren Aufkommen der Moderne in Wien beitrug.
    IM JAHRE 1900 WAR WIEN DIE HEIMAT von fast zwei Millionen Menschen. Viele fühlten sich von der Stadt deswegen angezogen, weil intellektuelle Brillanz und kulturelle Leistungen dort einen so hohen Stellenwert besaßen. Eine bemerkenswert große Zahl von ihnen waren Pioniere ganz unterschiedlicher Bewegungen der Moderne. Im Bereich der Philosophie gab es den Wiener Kreis, eine Gruppe um Moritz Schlick, zu dem später auch Rudolf Carnap, Herbert Feigl, Philipp Frank, Kurt Gödel und vor allem Ludwig Wittgenstein gehörten. Diese Gruppe versuchte, alles Wissen in eine einheitliche standardisierte Wissenschaftssprache zu kleiden. Carl Menger, Eugen Böhm von Bawerk und Ludwig von Mises gründeten die Wiener Schule der Ökonomie. Der große
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