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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Autoren: Eric Kandel
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den die Wiener Kunstmäzene voll Verehrung den neuen Rubens nannten, malte Klimt große Porträts mit allegorischen und mythologischen Themen (Abb. 1-3).

    Abb. 1-3.
Gustav Klimt, Fabel (1883).
Öl auf Leinwand.
    Erst 1886 nahm Klimts Werk eine mutige, originelle Wendung. In jenem Jahr wurden er und sein Kollege Franz Matsch beauftragt, den Zuschauerraum des alten Burgtheaters, der abgerissen und modern gestaltet werden sollte, im Bild festzuhalten. Matsch malte den Blick auf die Bühne vom Eingang aus und Klimt die letzte Aufführung im alten Theater. Doch statt die Bühne oder die Schauspieler in Aktion darzustellen, malte Klimt individuelle, identifizierbare Zuschauer, wie sie von der Bühne aus zu sehen waren . Diese Zuschauer verfolgten nicht das Stück, sondern hingen ihren eigenen Gedanken nach. Das eigentliche Drama Wiens, so schien Klimts Gemälde zu sagen, fand nicht auf der Bühne statt – es spielte sich im privaten Theater, in der Gedankenwelt des Publikums ab (Abb. 1-4 und 1-5).

    Abb. 1-4.
Gustav Klimt, Zuschauerraum im alten Burgtheater (1888).
Öl auf Leinwand.
    Kurze Zeit nachdem Klimt das alte Burgtheater gemalt hatte, begann der junge Neurologe Sigmund Freud, Patienten, die an Hysterie litten, mit einer Kombination aus Hypnose und Psychotherapie zu behandeln. Während seine Patienten den Blick nach innen richteten, frei assoziierten und über ihr privates Leben und Denken sprachen, stellte Freud eine Beziehung zwischen ihren hysterischen Symptomen und Traumata in ihrer Vergangenheit her. Den Anstoß zu dieser völlig neuartigen Behandlungsmethode lieferte Josef Breuer, der eine intelligente junge Wienerin, genannt »Anna O.«, untersucht hatte. Breuer, ein älterer Kollege Freuds, hatte bei Anna einen »in monotonem Familienleben und ohne entsprechende geistige Arbeit unverwendeten Ueberschuss von psychischer Regsamkeit und Energie« diagnostiziert, der »das habituelle Wachträumen« erzeugt habe – was Anna als ihr »Privattheater« bezeichnete. 3
    Die bemerkenswerten Einsichten, die Klimts spätere Arbeiten kennzeichnen, fielen zeitlich mit Freuds psychologischen Studien zusammen und kündeten bereits von der Wendung nach innen, die in »Wien 1900« alle Forschungsbereiche bestimmen sollte. Charakteristisch für diese Epoche, die die Wiener Moderne einläutete, war der Versuch, mit der Vergangenheit zu brechen und in Kunst, Architektur, Psychologie, Literatur und Musik neue Ausdrucksformen zu erforschen. Sie war die Geburtsstunde des bis heute anhaltenden Bestrebens, diese Disziplinen miteinander zu verknüpfen.

    Abb. 1-5.
Detail des Zuschauerraums.
Abgebildet sind Theodor Billroth, der führende Chirurg Europas,
Karl Lueger, der zehn Jahre später Wiens Bürgermeister wurde,
und die Schauspielerin Katharina Schratt,
die Geliebte Kaiser Franz Josephs.
    ALS WEGBEREITER DER MODERNE ÜBERNAHM »Wien 1900« vorübergehend die Rolle der Kulturhauptstadt Europas – in gewisser Hinsicht vergleichbar mit Konstantinopel im Mittelalter und Florenz im 15. Jahrhundert. Wien war seit 1450 das Zentrum der Habsburgischen Erblande gewesen und festigte seine Vormachtstellung ein Jahrhundert später, als es zum Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurde. Das Reich umfasste nicht nur die deutschsprachigen Staaten, sondern auch den Staat Böhmen und das Königreich Ungarn-Kroatien. In den darauffolgenden 300 Jahren blieben diese ungleichen Länder ein Flickenteppich aus Nationen ohne einen gemeinsamen Namen oder eine alle verbindende Kultur. Das einzige Bindeglied war die dauerhafte Herrschaft der Habsburger Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. 1804 nahm Franz II ., der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, als Franz I. den Titel Kaiser von Österreich an. 1867 bestand Ungarn auf seiner Gleichberechtigung, und so wurde aus dem Habsburgerreich die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn.
    Im 18. Jahrhundert, auf dem Zenit seiner Macht, wurde das Habsburgerreich in der Größe seiner europäischen Ländereien nur noch vom Russischen Reich übertroffen. Überdies konnte es auf eine lange Geschichte administrativer Stabilität verweisen. Eine Reihe militärischer Verluste in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und innere Unruhen zu Beginn des 20. Jahrhunderts schwächten die politische Macht des Reiches jedoch. Daraufhin verabschiedeten sich die Habsburger widerstrebend von ihren geopolitischen Ambitionen und richteten den Fokus auf die politischen und kulturellen Sehnsüchte ihres
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