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Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)

Titel: Das Zeitalter der Erkenntnis: Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute (German Edition)
Autoren: Eric Kandel
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früher als Freud.
    Überdies war Freud nicht der Erste, der über die Rolle unbewusster mentaler Prozesse in unserem Geistesleben nachdachte. Philosophen hatten sich bereits jahrhundertelang mit diesem Problem auseinandergesetzt. Im 4. Jahrhundert v. Chr. erörterte Platon unbewusstes Wissen und wies darauf hin, dass ein Großteil unseres Wissens latent in unserer Psyche schlummert. Im 19. Jahrhundert schrieben Arthur Schopenhauer und Nietzsche, der sich selbst als »den ersten Psychologen« bezeichnete, über Unbewusstheit und unbewusste Triebe, und zu allen Zeiten haben sich Künstler mit der männlichen und weiblichen Sexualität beschäftigt. Hermann von Helmholtz, der große Physiker und Physiologe aus dem 19. Jahrhundert, der auch Freud beeinflusste, entwickelte die Theorie, dass das Unbewusste eine zentrale Rolle bei der visuellen Wahrnehmung des Menschen spielt.
    Ihre Sonderstellung verdankten Freud und die Wiener Intellektuellen ihrem erfolgreichen Bestreben, diese Ideen weiterzuentwickeln und zu verknüpfen, sie in eine verblüffend moderne, kohärente und dramatische Sprache zu kleiden und der Öffentlichkeit auf diesem Wege eine neue Sicht auf den menschlichen, insbesondere den weiblichen, Geist nahezubringen. So wie Otto Wagner die klaren Linien schuf, die die moderne Architektur von früheren Formzwängen befreiten, vereinten und erweiterten Freud, Schnitzler, Klimt, Kokoschka und Schiele die Ideen ihrer Vorgänger über unbewusste Triebe und stellten sie in einem überzeugenden, modernen Licht dar. Sie trugen zur Befreiung des Gefühlslebens von Männern wie Frauen bei und bereiteten im Grunde der sexuellen Freiheit, die wir heute im Westen genießen, den Weg.
    DAS ZWEITE MERKMAL DER WIENER MODERNE war die Selbstbetrachtung. Bei ihrer Suche nach den Gesetzmäßigkeiten, denen die Natur der menschlichen Individualität unterliegt, legten Freud, Schnitzler, Klimt, Kokoschka und Schiele Wert darauf, nicht nur andere zu untersuchen, sondern vor allem sich selbst in Augenschein zu nehmen – nicht nur, was die äußere Erscheinung betraf, sondern auch die Eigentümlichkeiten ihrer Gedanken und Gefühle. Freud ergründete seine eigenen Träume und lehrte Psychoanalytiker die Auseinandersetzung mit der Gegenübertragung (den Gefühlen und Reaktionen, die der Patient beim Therapeuten auslöst); geradeso erforschten Schnitzler und die Künstler, insbesondere Kokoschka und Schiele, unerschrocken ihre eigenen instinkthaften Triebe. Mithilfe der Selbstanalyse schauten sie tief in ihre eigene Seele, um daraufhin die Triebe anderer sowie die von ihnen selbst erfahrenen Gefühle darzustellen. Diese Selbstbetrachtung machte »Wien 1900« aus.
    DAS DRITTE MERKMAL DER WIENER MODERNE war der Versuch, Wissen zu vernetzen und zu vereinen, was durch die Naturwissenschaft vorangetrieben wurde und von Darwins nachdrücklicher Botschaft inspiriert war, dass Menschen auf die gleiche Weise wie andere Tiere biologisch zu erforschen seien. »Wien 1900« eröffnete neue Perspektiven für Medizin, Kunst, Architektur, Kunstkritik, Design, Philosophie, Ökonomie und Musik. Es ermöglichte einen Dialog zwischen den Biowissenschaften und Psychologie, Literatur, Musik und Kunst und somit eine Vernetzung von Wissen, an der wir bis zum heutigen Tage arbeiten. Darüber hinaus veränderte es die Wiener Forschung, vor allem in der Medizin. Unter der Leitung von Rokitansky, der ein Anhänger Darwins war, stellte die Wiener Medizinische Schule die ärztliche Praxis auf eine systematischere wissenschaftliche Basis – sie kombinierte die klinische Untersuchung eines lebenden Patienten routinemäßig mit den Ergebnissen einer Autopsie nach dem Tode des Patienten, was den Krankheitsverlauf erhellte und eine genaue Diagnose erlaubte. Dieser wissenschaftliche Ansatz in der Medizin lieferte eine Metapher für die von der Moderne propagierte Betrachtung der Realität: Nur wenn wir unter das oberflächliche Äußere schauen, gelangen wir zur Wirklichkeit.
    Schließlich verbreiteten sich Rokitanskys Ideen über die Medizinische Schule hinaus und wurden zu einem wesentlichen Bestandteil der Kultur, in der die Wiener Intellektuellen und Künstler lebten und arbeiteten. Auf diese Weise erstreckte sich die Wiener Auseinandersetzung mit der Realität von den Kliniken und Sprechzimmern bis hin zu den Künstlerateliers und letztlich bis zu den Laboren der Neurowissenschaft.
    Freud hatte zwar kaum direkten Kontakt mit Rokitansky, begann aber seine medizinische
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