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Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)

Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)

Titel: Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
Autoren: Helen Bryan
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sein mochte. Es gab auch eine Medaille, die angeblich ebenfalls von dort kam, aber im Bürgerkrieg im Jahr 1932 verschwunden war. Sor Agnes, eine ältere und ziemlich vergessliche Nonne, hatte die Chronik vorsichtshalber versteckt, als Revolutionäre das Kloster angriffen. Legenden von Inkaschätzen, die in der Krypta der Klosterkirche vergraben sein sollten, hatten sie angestachelt. Damals hatten die stabilen Klostertore dem Druck des Pöbels standgehalten, doch die Geschichten über die verborgenen Schätze der Inkas lebten weiter und kamen in regelmäßigen Abständen an die Oberfläche. Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis die Tore nachgaben.
    Als die Armee den Aufstand im Jahr 1933 niederschlug, suchten die Nonnen, die damals im Kloster lebten, vergebens nach der Chronik. Die damalige Oberin flehte Gott um Geduld mit Sor Agnes an, die starb, ohne sich erinnert zu haben, wo sie das alte Buch versteckt hatte. Sie flüsterte nur, dass es an einem geheimen Ort verborgen sei.
    Da die Chronik nun verschwunden war und nicht wieder auftauchte, gaben die Nonnen ihre Traditionen in Erzählungen an die jüngeren Nonnen weiter, doch im Laufe der Zeit gingen immer mehr Einzelheiten verloren. Als die Oberin selbst eine junge Novizin war, erinnerten sich nur die allerältesten unter den Nonnen daran, die Chronik tatsächlich gesehen zu haben, bevor sie verschwand. Sie erzählten den Novizinnen, dass sie sie sofort wiedererkennen würden: Es war ein altes, in Leder gebundenes Buch mit Pergamentseiten. Auf dem Einband war undeutlich das vergoldete Bild eines Vogels zu sehen.
    Die Oberin fragte Sor Rosario ärgerlich, ob ihre »Vision« auch einen Hinweis auf das Versteck der Chronik gegeben hätte, wenn sie denn so wichtig war. Sor Rosario schüttelte den Kopf. Die Oberin seufzte und fragte, ob die Vision erklärt hätte, was sie mit »Sturm« meinte: War es ein politischer Sturm, der sich da anbahnte, oder ein Wettersturm? Und was sollten die Nonnen dagegen tun? Doch Sor Rosario zuckte nur bedauernd mit den Schultern. Die Mutter Oberin gab den Versuch auf, noch irgendetwas Sinnvolles aus ihr herauszuholen, und schickte sie zurück an ihre Arbeit.
    Ein paar Tage später beantwortete der Mano del Diablo die erste Frage.
    Im Waisenhaus des Klosters stellten Nonnen und Laienschwestern zusätzliche Pritschen auf und hielten ihre dürftigen Vorräte an Arzneimitteln und geflickte Nachthemden, Unterwäsche und fadenscheinige Pullover für die traumatisierten und verletzten Kinder bereit, von denen mehr und mehr ins Kloster kamen. Improvisierte Rettungsmannschaften, die Polizei, die Armee, Nachbarn und Fremde lieferten sie am Tor ab.
    Durch die Neuankömmlinge wurden die Bestände des Klosters fast vollkommen aufgebraucht. Früher einmal hatte die Mitgift, die eine Nonne aus einer Adelsfamilie bei ihrem Eintritt ins Kloster mitbrachte – Land, Gold-, Silber- und Smaragdminen und riesige Geldsummen –, das Kloster bereichert, doch im Laufe der Jahrhunderte nahm der Reichtum des Klosters mit jeder Berufung ab. Als Sor Rosario, ihre letzte Novizin, kam und darum bettelte, aufgenommen zu werden, bestand ihre Mitgift aus zwei mageren Hühnern – sie waren ihre gesamte Habe. Und so ruhte die Last des Waisenhauses auf den Schultern einer immer kleiner werdenden Gruppe älterer Nonnen und ebenso alter Laienschwestern. Und die Kinder, die die Katastrophe zu Waisen gemacht hatte, weinten die ganze Nacht. Sie weinten vor Schmerzen und sie weinten um ihre Familien. Sie machten ins Bett und hatten Albträume. Die, die nicht weinen konnten, hätten dringend Hilfe durch Spezialisten gebraucht, doch daran war nicht zu denken. Sor Rosario schürzte ihre Nonnentracht und scheuerte Kochtöpfe und Böden, kochte Laken aus, trug den älteren Kindern auf, sich um die jüngeren zu kümmern, und verdünnte den Maisbrei und den letzten Rest der Jodtinktur mit Wasser, bis sie nicht mehr rotbraun war, sondern allenfalls noch einen rosigen Schimmer aufwies.
    Schon bald konnten sich die Nonnen und Laienschwestern vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten, doch es gab so viel zu tun, dass sie die nachmittägliche Siesta ausfallen ließen. Schließlich befahl die Oberin jedoch, dass alle – Kinder, Nonnen, Laienschwestern, selbst der ältere Mann, der alle möglichen Arbeiten im Kloster erledigte – sich nach dem Mittagessen eine Stunde ausruhen und sich nicht von der Stelle rühren sollten, egal was passierte.
    Diese kurze Zeit der Stille
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