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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Autoren: Kai Meyer
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und dennoch hörte sie noch immer das Scharren, das allmählich zu einem Wälzen wurde, während das Trommeln die Intensität einer nahenden Büffelstampede erreichte.
    » Li! «, brüllte sie. » Worauf wartest du? Warum, verdammt nochmal, bist du nicht mit hier oben? «
    Der Xian beachtete sie nicht. Angestrengt spähte er ins Du n kel, die Schaufellanze stoßbereit. Noch einmal versuchte Nugua, etwas zu erkennen, weiter östlich im Irrgarten der Gebeine, aber die Höhe lenkte sie ab, und es erforderte noch immer gehörige Mühe, sich auf dem Vogelrücken zu halten.
    » Kannst du nicht irgendwo landen? «, fragte sie den Kranich, aber es klang eher wie ein Fluch, weil sie annahm, dass er sie eh nicht verstand und ihr erst recht nicht gehorchen würde. Zu ihrem Erstaunen schwenkte der Vo gel aus seiner Kreisbahn und stieß auf den höchsten Punkt eines nahen Rippenbogens herab, unmittelbar neben der Stelle, wo der Knochen mit der titan i schen Wirbelsäule verschmolz. Die Vogelkrallen fanden festen Halt, und Nugua hatte mit einem Mal freie Sicht auf die Lic h tung und den Xian.
    Die Dunkelheit auf der anderen Seite nahm Gestalt an . Aber erst, als der vordere Teil des Wesens das Dickicht der Gebeine verließ und heraus in den Dämmerschein glitt, ließ sich erahnen, um was es sich handelte.
    Nugua öffnete den Mund zu einem Schrei. Ihre Kehle war ausgetrocknet vor Entsetzen, und mehr als ein Krächzen drang nicht über ihre Lippen. Dafür stieß der Kranich ein schrilles Kreischen aus, schlug aufgeregt mit den Schwingen, blieb aber auf der Rippe sitzen, fünf Mannslängen über dem Boden. Nugua klammerte sich an Zügel und Gefieder und konnte den Blick nicht von der Kreatur nehmen, die sich auf Li zubewegte. Plötzlich wirkte selbst der mächtige Unsterbliche winzig im Vergleich zur Körpermasse des Ungeheuers.
    Das Wesen hatte Ähnlichkeit mit einem Tausendfüßler, chiti n artig glitzernd und segmentiert, mit einer Unzahl verwinkelter Beine zu beiden Seiten seines hässlichen Leibes. Es musste sechs, sieben Meter breit sein, vielleicht mehr. Wie lang es war, blieb ungewiss, denn bisher hatte es gerade einmal seine vorderen Segmente aus dem Gebeinlabyrinth ins Freie gesch o ben und füllte dennoch bereits die Hälfte der Lichtung aus. Mit brachialer Urgewalt raste es auf seinen rasselnden Panzerbeinen auf den Xia n z u, der gar nicht erst versuchte, sich zum Kampf zu stellen. Stattdessen wirbelte er herum und rannte – rannte so schnell, wie Nugua es ihm bei seiner Leibesfülle niemals zugetraut hätte.
    Der Kranich schrie erneut, als Li in das Dunkel zwischen den Drachengebeinen tauchte. Das Tausendfüßlerbiest glitt weiter hinaus auf die Lichtung, verharrte aber plötzlich, als sein Kopf die Stelle erreichte, an der eben der Xian gestanden hatte. Noch immer war kein hinteres Ende in Sicht. Der mächtige, wurmart i ge Leib verschwand irgendwo auf der anderen Seite des Platzes im Knochengewirr. Das Erstaunlichste war – abgesehen von seiner atemberaubenden Scheußlichkeit –, dass das Wesen trotz seiner Größe keines der Drachengerippe auf seinem Weg zermalmt hatte. Wendig wie eine Schlange musste es sich auf hunderten von Beinpaaren durch das Labyrinth am Grund der Schlucht bewegen, so als besäße es, ja … Achtung vor den gewaltigen Skeletten.
    Die Stelle, wo der Kranich und Nugua kauerten, war kaum zwanzig Meter vom Vorderende des riesenhaften Vielfüßlers entfernt. Sie hätte jetzt sein Gesicht sehen können – wäre da eines gewesen. Vielmehr endete das Vordersegment in einer nach außen gewölbten rauen Fläche, in deren Mitte eine winzige Öffnung erschien, wie ein Trichter im Treibsand. Sie wurde immer größer, bis sich das halbe Kopfsegment in einen strude l artigen Schlund verwandelt hatte. Mehrfach öffnete und schloss er sich wieder, in pulsierenden, organischen Schüben, ehe er sich abermals glättete, einen Moment lang erstarrte und dan n e ine neue Form bildete, diesmal kein Trichtermaul, sondern ein Nest wirbelnder Tentakel wie ein Tintenfisch.
    Nugua würgte vor Ekel und Furcht, aber noch immer gab sie dem Kranich keinen Befehl, sich in die Luft zu erheben. Der Vogel musste am besten wissen, wann der Augenblick zur Flucht gekommen war. Noch schien er sich hier oben auf dem Gerippe sicher zu fühlen.
    Die Fangarme am Vorderende des Tausendfüßlers tasteten mit fingerdünnen Spitzen über den Boden, genau dort, wo Li und Nugua gestanden hatten. Sie schauderte, als ihr bewusst wurde, dass
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