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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Autoren: Kai Meyer
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che packte die Zügel des Kranichs fester und gab dem Tier mit seinen Füßen Signale.
    Nugua hörte kaum hin. Sie saß hinter ihm auf dem Rücken des Vogels, eng an Lis gewaltigen Körper gepresst, und konzentrie r te sich auf den Schmerz in ihrem Inneren . Li meinte es gut, natürlich. Aber sie spürte, wie der Fluch der Purpurnen Hand sie mit jedem Tag schwächer machte. Ihr Pulsschlag galoppierte so schnell, dass sie manchmal kaum Luft bekam, und sie wagte nicht mehr, das magische Mal auf ihrer Brust anzusehen: der Umriss einer Faust, die sich immer fester um ihr Herz schloss. Lotusklaue, ein Hauptmann der Mandschu, hatte ihr die Verle t zung vor drei Tagen im Kampf zugefügt, und nun blieb ihr nur noch wenig Zeit. Vielleicht, wenn sie den Drachenfriedhof rechtzeitig erreichten … Aber all ihre Hoffnungen waren nicht aufrichtig. Tief im Inneren wusste sie, wie schlecht ihre Cha n cen standen. Sie ahnte, dass sie sterben würde.
    Nugua war zierlich, mit struppigem schwarzem Haar und braunen Mandelaugen. Im Vergleich zu dem Unsterblichen, der vor ihr die Zügel des Riesenkranichs führte, wirkte sie zerbrec h lich wie eine Puppe. Nugua war kein gewöhnliches Mädchen: Sie war aufgewachsen unter der Obhut von Yaozi, dem Dr a chenkönig des Südens.
    Inzwischen war es fast ein Jahr her, seit Yaozi und die übrigen Drachen verschwunden waren und Nugua sich auf die Suche nach ihnen gemacht hatte. Unterwegs war sie Niccolo begegnet, dem Jungen mit den goldenen Augen. Niccolo, der ausgezogen war, das Wolkenvolk zu retten. Er hatte die Wolkeninsel, auf der das Volk der Hohen Lüfte seit zweihundertfünfzig Jahren lebte, verlassen, um in den Weiten Chinas nach einem Drachen zu suchen . Denn Drachen atmeten eine rätselhafte Substanz aus, die der Wolkeninsel Festigkeit verlieh. Ohne sie drohte die Heimat des Wolkenvolks abzustürzen und alle, die auf ihr lebten, ins Verderben zu reißen.
    Nugua sah nach vorn und folgte Lis Blick über die Felszacken hinweg. » Woher weißt du, wie nah wir sind? Da ist nur Nebel. «
    Der Xian, einer der acht Unsterblichen, nickte mit seinem kahlen Schädel, aber weil man zwischen den mächtigen Schu l tern seinen Hals nicht sah, fiel das kaum auf . Li war der größte Mensch, dem Nugua jemals begegnet war – vor allem aber der breiteste. Drei Männer nebeneinander hätten seinen Umriss nicht hinter sich verbergen können, selbst sein haarloser Kopf hatte einen kolossalen Umfang. Als kleines Kind hatte Nugua sich manchma l S pielgefährten aus flachen Flusssteinen gebaut, die sie mit Baumharz aufeinanderklebte; ihre Körper hatten den Proportionen des Xian geähnelt.
    Lis Rückenmuskulatur zuckte unter Nuguas Wange. Er deutete nach unten. » Das da ist die Schlucht von Wisperwinds Karte. «
    Der Kranich flog mit majestätischem Flügelschlag zwischen zwei Felsnadeln hindurch, die sich mehrere hundert Meter über dem Wald erhoben. Dahinter, im Norden, dampfte der Nebel als graue Masse aus der Schlucht empor. Es gehörte nicht viel dazu, sich vorzustellen, dass dieser Ort Geheimnisse barg.
    » Es regnet nicht «, stellte Nugua beunruhigt fest. » Wenn da unten wirklich Drachen wären, müsste es regnen. «
    Regenwolken folgten den Drachen auf ihren Wanderungen durchs Land. Selbst im Winter nieselte ein warmer Sommerr e gen auf die leuchtenden Schuppenleiber herab. Während der vierzehn Jahre, die Nugua an der Seite Yaozis und seines Clans verbracht hatte, hatte sie keinen trockenen Tag erlebt; ihr war der lauwarme Regen als etwas ganz Alltägliches erschienen.
    Li seufzte leise, während der Kranich sie aus dem Schatten der Felsen trug. Keine zehn Meter unter ihnen breitete sich die Oberfläche des Nebels aus wie ein See, der bis zur gegenübe r liegenden Seite der Schlucht reichte. Auch dort wuchs eine zerfurchte Kette aus Granitspitzen in die Höhe.
    » Ist Nebel nicht genauso gut wie Regen? «, fragte der Xian.
    Nuguas erster Impuls war zu verneinen, doch dann war sie nicht mehr sicher. Die Schuld daran trug die Purpurne Hand; sie machte es schwierig, sich auf einen Gedanken zu konzentrieren, der nicht ums Sterben oder stechende Schmerzen in der Brust kreiste. Trotzdem – Nugua konnte sich vage an Tage erinnern, an denen der Drachenclan durch Nebelbänke gezogen war und die Schwaden mit der Leuchtkraft ihrer gigantischen Schlange n leiber zum Glühen gebracht hatten. » Ich weiß es nicht «, gestand sie schließlich.
    Li ließ den Kranich kreisen, während er nach einem aufgewe h ten
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