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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Autoren: Kai Meyer
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Fremda r tigkeit ein, von Verlorenheit und schlichtem Kleinsein, dass ihr die Tränen kamen . Sie war kein Drache, würde nie einer sein; aber sie war auch kein Mensch wie alle anderen.
    Li schien zu spüren, was in ihr vorging, denn er löste eine seiner Pranken von den Zügeln und legte sie auf Nuguas Hand an seinem Gewand. » Ich weiß, was du fühlst . Mir ist es genauso ergangen, als ich den Göttern gegenüberstand und begriffen habe, dass ich niemals sein würde wie sie. Nicht einmal wie der Staub unter ihren Füßen. «
    » Immerhin haben sie dich zum Xian gemacht. « Er nickte wehmütig. » Nicht Mensch, nicht Gott, sondern etwas dazw i schen. Nirgends zu Hause, von keinem geliebt. Immer mit dem Gefühl zu leben, man gehöre weder hierhin noch dorthin, ist nicht einfach. Das ist es, was einen Auserwählten von anderen Lebewesen unterscheidet: seine Fähigkeit zu leiden, zu zweifeln, niemals Gewissheit über sich selbst zu besitzen. Nicht einmal di e A ussicht, dass der Tod all dem einmal ein Ende bereiten könnte, ist uns Xian vergönnt. «
    Zum ersten Mal spürte Nugua tiefe, uneingeschränkte Freun d schaft für den Unsterblichen. Sie verstand ihn, erfasste das ganze Ausmaß seiner Worte, und obwohl manches davon auch auf sie selbst zutraf, fühlte sie, dass es ihr im Vergleich zu ihm doch viel besser erging. Sie konnte frei entscheiden, wie sie leben wollte – als Mensch oder unter Drachen.
    Falls sie leben würde und die Purpurne Hand sie nicht u m brachte. Und falls sie die Drachen jemals wiederfände.
    » Du willst nicht sterben «, sagte sie nach einem Moment. » Nicht wirklich. «
    » Bist du dir da sicher? «
    » Warum machst du sonst Jagd auf Mondkind? «
    » Weil wir zu Xian gemacht wurden, um zu dienen. Den Gö t tern, aber vor allem der Welt der Menschen. Wenn wir aufhören zu existieren, reißen zugleich die Bande zwischen Himmel und Erde. Wir dürfen das nicht zulassen . Denkst du, wir wurden wegen unserer Stärke oder wegen unseres Wissens auserwählt? Unsere größte Tugend ist unsere Opferbereitschaft. « Er lachte und deutete aufwärts. » Aber erzähl das nicht denen da oben. «
    Während der vergangenen Wochen hatte Li fünf seiner Brüder und Schwestern verloren. Mondkind hatte sie im Auftrag des Aethers ermordet. Von einstmals acht Xian waren nur Li und seine Brüder Tieguai und Guo Lao noch am Leben. Falls es Mondkind gelingen würde, auch übe r s ie zu triumphieren, gab es niemanden mehr, der den Aether davon abhalten konnte, die Welt ins Chaos zu stürzen. Li hatte gar keine andere Wahl, als sich Mondkind früher oder später zu stellen – aber er würde alles tun, damit diese Begegnung zu seinen Bedingungen stattfand. Er musste sie aufhalten, um jeden Preis.
    Nugua legte den Kopf an seinen Rücken, als sie ein neuerl i cher Schwächeanfall überkam. Die Purpurne Hand presste ihre Brust zusammen und raubte ihr ein paar Sekunden lang den Atem. Panik schnürte ihr die Kehle zu, Todesangst grub sich in ihren Magen. Nur allmählich verging das Gefühl wieder. Die Abstände, in denen sich der Fluch des Mandschuhauptmanns in Erinnerung rief, wurden immer kürzer.
    » Alles in Ordnung? «, erkundigte sich Li.
    » Ja … schon gut. «
    » Wir werden einen Drachen finden, der den Fluch aufheben kann «, erklärte er entschlossen. » Halt dich fest! «
    Und wieder rauschten sie abwärts, begleitet von einem Kräc h zen des Kranichs, das verzerrt von den Felswänden widerhallte. Es gab keinen Grund zur Heimlichkeit. Sie mussten den Wächterdrachen des Friedhofs finden und ihn um Hilfe bitten – je früher er sie bemerkte, desto besser.
    » Dort drüben «, rief Li über das Fauchen der Schwingen hi n weg. » Dort gehen wir runter. «
    Der Kranich näherte sich einer Lichtung im Irrgarten der Gerippe. Aus der Nähe hatten die Gebeine Ähnlichkeit mit einem bleichen, laublosen Urwald – riesige Stämme, morsche Äste, verwachsenes Unterholz aus Knochen . Dort, wo noch Schuppenhaut erhalten geblieben war, hing sie in verfaulten Fetzen von mächtigen Rippenbögen und wurde vom Luftzug der Kranichschwingen zum Wehen gebracht.
    Hier unten war es düster, obwohl oberhalb des Nebels helles Tageslicht herrschte. Falls zwischen den Gerippen noch irgen d etwas lebte, blieb es unsichtbar. Nugua bezweifelte, dass es Tiere gab, die sich von den Kadavern ernährten – dafür kam viel zu selten ein sterbender Drache hierher, im Abstand von Jahrzehnten, eher Jahrhunderten.
    » Er ist nicht hier «, sagte
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