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Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht

Titel: Das Wolkenvolk 02 - Lanze und Licht
Autoren: Kai Meyer
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ihr Versprechen aber traf sie wie ein Schlag. Auf einmal, ohne dass sie es wollte, verwandelte sich ihr Schmerz in Wut. Wie hatte Niccolo zulassen können, dass sie solch einen Schwur leistete? Sie würde sterben, wenn kein Wunder geschah! Und dieser selbstsüchtige, verblendete Dummkopf verlangte von ihr, dass sie seine Aufgabe übernahm, nur damit er weiter mit Mondkind herumturteln konnte!
    Sie wusste, dass sie nicht wirklich so empfand, dass es nur ihr Kummer war, der sie das denken ließ – und doch : Irgendwo in all dem steckte ein wahrer Kern, der Ansatz eines Verrats. Sie mochte Niccolo einfach zu sehr, und das erschreckte sie. Und dieses Gefühl war nur eines von all den neuen, schwer zu begreifenden Dingen, die in letzter Zeit auf sie eingehagelt waren.
    Li tätschelte ihren Kopf – ähnlich, wie er das vorhin beim Kranich getan hatte – und wartete, bis sie sich ausgeweint hatte. Abrupt zog sie sich wieder von ihm zurück.
    » Wir sollten – «, begann er, runzelte unvermittelt die Stirn und stürmte dann zu seinem Vogel hinüber. Blitzschnell riss er die Lanze aus dem Lederschaft am Zaumzeug des Kranichs. Die rasiermesserscharfe Schaufelklinge an der Spitze der Waffe zog eine silberne Spur durch die Luft, als Li den Schaft mit beiden Händen packte und in Kampfposition sprang.
    » Komm her! «, rief er Nugua mit gepresster Stimme zu. » Schnell! Hinter mich! «
    » Was ist denn – «
    » Beeil dich! «
    Sie lief an seine Seite, nicht hinter ihn, und blickte in dieselbe Richtung wie er. Der Kranich zog seinen Schnabel unter der Schwinge hervor und richtete sich auf.
    » Etwas kommt «, raunte Li.
    Angestrengt starrten sie in das Zwielicht zwischen den Dr a chengerippen. Es war, als blickte man bei Nacht in einen Wald; jenseits der vorderen Knochentürme versank die Schlucht in einem verworrenen Durcheinander aus Rippenbögen, vermode r ter Schuppenhaut und Dunkelheit.
    Jetzt hörte sie etwas. Ein Scharren und Klappern. Es wurde rasch lauter. Zugleich erklang ein sanftes Trommeln, wie von Fingerspitzen auf Holz. Tausend Fingerspitzen.
    » Auf den Kranich! «, brüllte Li und machte zwei Schritte in die Richtung der Geräusche.
    Nugua rührte sich nicht. » Was ist das? «
    » Steig auf den Kranich! Sofort! «
    Das Tier verstand ihn und stieß Nugua mit dem Schnabel an. Widerwillig fasste sie die Zügel, als der Vogel neben ihr zu Boden sank, damit sie leichter aufsteigen konnte.
    » Mach schon! «, befahl Li.
    Nuguas Herz hämmerte fast genauso schnell wie das unhei m liche Trommeln in der Finsternis. Sie setzte sich hinten auf den Kranich, kurz vorm Schwanzgefieder. » Was ist mit dir? « Sie deutete auf den freien Platz vor sich.
    » Halt dich gut fest «, sagte Li ohne aufzusteigen und gab dem Riesenvogel einen Wink.
    Nugua keuchte laut auf, als der Kranich das Hinterteil anhob und sie auf seinem Rücken ein Stück weit nach vorn warf; sie kam dort zum Sitzen, wo eigentlich Lis Platz war, kurz vor der Stelle, an der das graue Körpergefieder in den weiß-schwarzen Hals überging. Der Kranich drückte die Beine durch und erhob sich. Ein-, zweimal spreizte er versuchsweise die Schwingen, bevor er sich in die Luft erhob.
    » Ich kann ihn nicht lenken! «, rief Nugua panisch. Ihr erster Impuls war, sich an dem langen dünnen Kranichhals festzuha l ten, aber das Tier stieß ein drohendes Fauchen aus, sodass sie die Finger geschwind zurückzog und sich an die Zügel kla m merte. Sie presste die Beine an die Flanken des Vogels, duckte sich tief über das Gefieder und war so beschäftigt damit, nicht herunterzufallen, dass sie gar nicht bemerkte, wie schnell sie an Höhe gewannen. In Windeseile schwebten sie fünfzehn Meter über dem Boden, weit über den höchsten Rippenbögen und Wirbelsäulen.
    Ich kann das nicht!, durchzuckte es sie. Aber im nächsten Moment konnte sie es doch, denn sie blieb wider Erwarten sicher sitzen, so als hätte sie während des langen Fluges gemei n sam mit Li mehr über das Steuern eines Riesenkranichs gelernt als ihr selbst bewusst gewesen war . Dabei war ihr klar, dass sie den Vogel nicht wirklich lenkte. Er tat nur das, was er wollte – oder was Li ihm befohlen hatte. In engen Runden kreiste er über der Lichtung im Knochenlabyrinth, wo sein Meister noch immer kampfbereit stand und auf den unsichtbaren Gegner wartete.
    Nach der zweiten Runde saß Nugua sicher genug, um einen längeren Blick in die Tiefe zu riskieren. Der Schwingenschlag des Kranichs rauschte in ihren Ohren,
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