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Das wird mein Jahr

Das wird mein Jahr

Titel: Das wird mein Jahr
Autoren: Sascha Lange
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drehte mich um, und sie stand wirklich vor mir: Anke, in ihrem alten schwarzen Wintermantel, der fast so wie meiner aussah, mit einer Sektflasche in der Hand. NatürlichAnke. Sie fehlte noch in diesem perfekten Bild hinter dem Schaufenster.
    »Du hier und nicht in Düsseldorf ?«, sagte ich. Fiel mir nichts Besseres ein? Ob ich sie umarmen sollte? Wir hatten ja schließlich … Doch wir standen wie versteinert da. Oder war nur ich versteinert? Anke schaute mich gelassen an, und ich war mir sicher, dass sie auch diese Begegnung bereits vorausgesehen hatte.
    »Du hier und nicht in Esslingen?«, entgegnete sie und kam näher.
    »Na ja, ich musste da kurzfristig meine Zelte abbrechen, nicht ganz freiwillig. Stress mit den Bullen. Was machst du denn in Berlin?«
    »Medizin studieren. Düsseldorf wurde auf die Dauer zu langweilig. Du hast Stress mit der Polizei?«
    »Na ja, nicht wirklich.« Ich zögerte kurz. »Bist du allein hier?«, fragte ich.
    »Siehst du noch jemanden?« Anke blickte neben und hinter sich und dann wieder direkt in meine Augen.
    »Ich meine …«, ihr Blick machte mich nervös, »… deinen Umzugshelfer.«
    »Michael? Den habe ich in Düsseldorf gelassen. Ist besser so.«
    »Wolltest du gerade zu dieser Party?«, fragte ich sie.
    »Ja, da sind einige neue Bekannte von mir.« Jemand klopfte von innen an die Scheibe und winkte Anke zu. Sie winkte flüchtig zurück und sagte: »Von denen da drin arbeitet einer als Pathologe und erzählt beim Essen immer unappetitliche Geschichten von Autopsien, um die anderen zu ärgern. Wollen wir woanders was trinken gehen?«
    Wir liefen schweigend nebeneinander. War das hier alles real?
    »Vielen Dank für dein Mixtape«, sagte Anke nach einer Weile, und ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoss.
    »Und, konntest du was mit den Bands anfangen?«, fragte ich lauernd.
    Sie nickte. »Hattest du meine Postkarte nicht bekommen?« Postkarte? Welche Postkarte? Welche verdammte Postkarte?
    »Nee, leider nicht. Schade. Was stand denn da drauf ?«
    »Das willst du wohl gerne wissen.« Anke schaute mich an und lächelte geheimnisvoll.
    »Klar«, sagte ich, aber sie erwiderte nichts. Wir liefen weiter durch die Nacht.
    »Wo ist denn nun deine Kneipe?«
    »Da drüben gleich.« Wir wechselten die Straßenseite und standen vor einer verschlossenen Tür. »Urlaub bis nächstes Jahr«, stand auf einem kleinen Pappschild. »Ausgerechnet heute, wo die mit uns das Geschäft ihres Lebens gemacht hätten«, sagte ich.
    »Und nun?«, fragte Anke.
    »Wir könnten zurück Richtung Oranienplatz oder an der Skalitzer Straße mal gucken. Oder wir laufen rüber in den Osten, bei Martin ist in der Kastanie eine Party.«
    »Martin ist auch in Berlin?«, fragte mich Anke.
    »Ja. Und wenn er sich hübsch zurechtmacht, sieht er aus wie Marilyn Monroe.«
    Sie schaute mich verblüfft an. »Nicht wie Martin Gore? Was du alles weißt.«
    »Wir haben zusammen in der Mainzer gewohnt bis zur Räumung.«
    »Davon habe ich gehört, aber nur durchs Fernsehen. Ich wohne drüben in Kreuzberg 61. Das ist ein Stück weit weg von Friedrichshain – wie ’ne andere Stadt.«
    In der Zwischenzeit waren wir an der Oberbaumbrücke angelangt und schauten rüber in den Ost-Teil auf die Reste der Mauer. Eine Kirchenglocke schlug. Andere stimmten mit ein. Aus einem offenen Fenster grölte eine ganze Partygesellschaft.
    »Ist es etwa schon Mitternacht?«, fragte ich Anke.
    Sie schaute auf ihre Uhr und nickte. »Los komm, von der Brücke hat man bestimmt die beste Aussicht auf das Feuerwerk.« Wir rannten. Um uns herum flogen Raketen und Böller in das neue Jahr und erleuchteten den Himmel.
    »Wenn du die Sektflasche nicht die ganze Nacht mit dir rumtragen willst, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, sie aufzumachen«, sagte ich.
    Anke öffnete sie schnell, und der Korken flog im hohen Bogen in die Spree. »Prost Neujahr, Friedemann.«
    Ich nahm die Flasche und trank einen kräftigen Schluck.
    »Sag mal, stehen wir hier auf der Brücke noch im Westen oder schon im Osten?«, fragte Anke.
    Ich schaute mich um. »Keine Ahnung.«
    »Here’s where the story ends«, sang Anke plötzlich ganz leise vor sich hin. Ihre Stimme klang genauso schön und klar, wie die von der Sängerin der Sundays.
    Ich drehte mich verwundert zu ihr. »Wie meinst du das?«, fragte ich.
    »Na, 1990 ist zu Ende.« Anke schaute plötzlich ganzernst. »Nachdem ich diesen Song auf deinem Mixtape hörte, wurde ich so grauenhaft melancholisch, dass ich dich
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