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Das wird mein Jahr

Das wird mein Jahr

Titel: Das wird mein Jahr
Autoren: Sascha Lange
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West-Bullen sind so brutal krass drauf, da waren die am 7. Oktober in Leipzig letztes Jahr totale Hippies dagegen«, sagte er zu mir und schnaubte in ein Taschentuch.
    Noel stand am Fenster. »Jetzt kommt das große Finale«, rief er in die Runde.
    Geschrei erhob sich draußen, die Bullen hatten die große Barrikade an der Frankfurter überwunden und stürmten die von uns zerpflügte Fahrbahn der Mainzer. Über ihren Helmen hielten sie Sperrholzplatten.
    Sandra rief in die Runde: »So, Leute, wie gestern besprochen. Wer sich verdrücken will oder muss, sollte jetzt versuchen noch abzuhauen. Alle, die hierbleiben wollen bis zur Festnahme, bleiben zusammen in der Küche. Die Bullen werden nicht gerade zimperlich mit uns umgehen.«
    Einige eilten zu den Fenstern und warfen die letzten Steine runter, danach die Küchenstühle. Alles wurde zerlegt und aus den Fenstern geschmissen. Zum Schluss das Geschirr. Unten hörte man die Polizei an die versperrte Tür hämmern.
    Mir fielen die Stuttgarter Drogenbullen wieder ein. Ich musste weg. Schnell. Martin stand immer noch an der Wand und starrte ins Leere.
    »Martin, wir sollten uns lieber verpissen. Wir finden woanders was Neues«, rief ich, doch er stand da wie versteinert. Ich zog an seiner Jacke, aber er schleuderte meineHand weg. »Wo Blume? Wo nur? Wo haben wir die Freiheit, einfach wir selber zu sein? Nein, ich bleibe hier. Ich will nirgendwo anders sein«, flüsterte er apathisch. Sein Gesicht war voller Tränen. Flo und Sandra redeten auf Martin ein.
    Noel zog mich ins Treppenhaus, und zusammen mit Matti hasteten wir im Hof an die Mauer, hinter der ein Friedhof lag. Wir lehnten eine Leiter an und kletterten rüber. Man hörte, wie das Holz unserer Haustür zu splittern begann. Auf der anderen Seite duckten wir uns hinter einen Baum, aber niemand war zu sehen. Ein Grabstein reihte sich an den anderen. Hinter uns hörte man leise aus unserem Nachbarhaus »Der Traum ist aus« von Ton, Steine, Scherben. Unter unseren Schuhen raschelte das Laub. Über uns auf den blattlosen Bäumen saßen Krähen und lachten uns aus.
    Matti zog seine Motorradsturmhaube vom Kopf und verstaute die Handschuhe in seinen Jackentaschen. Ich tat es ihm nach und nahm mein schwarz geblümtes Halstuch ab. Im Hintergrund hatte sich eine kleine Trauergesellschaft um eine Grabstelle versammelt. Alle starrten in das ausgehobene Loch. Ein Pfarrer stand vor ihnen. Beschwörend hob er die Arme, aber man hörte nicht was er sagte. Das Knattern des Hubschraubers wurde wieder lauter.
    Wir gingen langsam Richtung Ausgang. Noel schnappte sich im Vorbeigehen ein kleines Gesteck von einem frischen Grab. Ich blickte ihn fragend an.
    »Falls vorne Bullen stehen, sagen wir einfach, wir haben das Grab nicht gefunden.«
    Einzeln schlüpften wir durch das schmiedeeiserne Torauf die Boxhagener Straße. Draußen standen die Bullenwannen Schlange und dazwischen jede Menge Schaulustige. Uns beachtete niemand. Zuerst wollten wir wieder Richtung Mainzer, um zu schauen, ob wir noch irgendetwas ausrichten konnten, doch eine gelangweilte Bullenkette scheuchte uns und alle Gaffer weg. Etwas ratlos standen wir in einer Seitenstraße. Aus einem vorbeifahrenden Sixpack glotzten uns West-Bullen in Kampfmonturen angriffslustig an. Wir drehten uns langsam um und gingen Richtung Warschauer Straße, wo wir die Nacht zuvor auf Drängen von Noel unsere Fahrräder an ein Verkehrsschild geschlossen hatten.
    Wir radelten auf dem Fußweg Richtung Oberbaumbrücke. Keiner sagte etwas. Das Adrenalin der letzten Tage war verbraucht. Da war kein Hass, keine Wut mehr in mir – nur Leere und Konfusion. So, als ob jemand mit einem Schluss gemacht hätte. Mir fiel das verheulte Gesicht von Martin wieder ein. Ob ich hätte bei ihm bleiben sollen? Dieses Haus würden wir bestimmt nicht wieder von innen sehen. Noch nie hatte ich Martin so lebendig erlebt, wie er es war, seit er in der Mainzer wohnte, und noch nie hatte ich mich so lebendig gefühlt, so frei. »I know it’s over«, sang Morrissey bei den Smiths auf der »The Queen Is Dead«-Platte und genau diese Textzeile wiederholte sich in meinen Gedanken wie die hängengebliebene Nadel eines Plattenspielers, die immer wieder dieselbe Stelle abspielte.
    Alle Straßen, die wir mit unseren Fahrrädern Richtung Kreuzberg überquerten, waren voller Bullenwannen, doch wir beachteten sie nicht weiter. Noel hatte das Grabgesteck auf seinem Fahrradlenker befestigt und fuhr uns voraus.

19. Here’s Where
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