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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen
Autoren: dtv
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die Wahrheit: dass jener Mann, der unsere Familie zerstört hatte, sein leiblicher Vater war, dass ich ihn nur aus Großmut als meinen Sohn angenommen hatte und dass er nun auch noch im Begriff war, sich in seine Schwester zu verlieben.«
    Lea schnaubte. »So haben Sie es formuliert? Da wundert es mich kaum, dass ihr Sohn psychisch krank wurde. Wahrscheinlich haben Sie ihn Ihre Ablehnung deutlich spüren lassen, und daran ist seine junge Seele zerbrochen.«
    »Quatsch!«, schrie Zirner, der plötzlich die Beherrschung verlor, seine Reisetasche fallen ließ und einen drohenden Schritt auf Lea zutat. »Er war von Anfang an nicht richtig im Kopf! Er lernte viel zu spät sprechen, und als er es endlich konnte, stotterte er wie ein Schwachsinniger! Manchmal hat er sich wochenlang geweigert, überhaupt den Mund aufzumachen! Stattdessen begann er, Bilder zu malen – krankes, wirres Zeug, das einem schon beim Ansehen Übelkeit bereitete. Mit neun Jahren hat er versucht, sich draußen im Seerosenteich zu ertränken.«
    »Auch das wundert mich nicht«, beschied Lea kühl. »Er hat von Anfang an gefühlt, dass Sie ihm die Schuld für das Scheitern Ihrer Ehe gaben. Wie hat er reagiert, als Sie ihm eröffneten, dass Martin Herforth sein Vater und Christine seine Halbschwester war?«
    Zirner schien sich etwas zu beruhigen.
    »Es schien ihn kaum zu berühren«, sagte er mit abgewandtem Gesicht. »Ich wusste nie, ob er wirklich verstand, was ich ihm sagte. Er lebte längst in seiner eigenen Welt, hockte stundenlang still in irgendeiner Ecke und starrte vor sich hin wie ein Debiler. Eine Zeit lang gelang es mir, ihn im Haus einzusperren, dann hörte ich, dass Christine Herforth wieder einmal von zu Hause ausgerissen war, und atmete auf. Ich hoffte, Uwe würde vielleicht wieder halbwegs normal werden, wenn er nur ihrem schlechten Einfluss entzogen war   …« Er atmete schwer, bevor er fortfuhr. »Doch dann, zwei Wochen später, sah ich sie eines Abends an der Landstraße entlanggehen, zwischen der Bushaltestelle am Ortsausgang und dem Hof ihrer Eltern. Sie war nach Verchow zurückgekehrt, gerade als ich gehofft hatte, sie wäre auf Nimmerwiedersehen verschwunden.«
    »Und da haben Sie angehalten.« Lea nickte. »Sie haben Christine zum Einsteigen aufgefordert – und dafür gesorgt, dass sie endgültig und für immer verschwand.«
    »Ich versuchte mit ihr zu
reden!
«, stellte Zirner richtig. »Ich sagte ihr, sie solle Uwe in Ruhe lassen. Aber das freche kleine Biest fragte nur zurück, was mich das angehe.«
    »Wusste sie, dass Uwe ihr Bruder war?«
    Zirner schüttelte den Kopf. »Ich sagte es ihr. Und können Sie sich vorstellen, was sie antwortete? Es sei ihr egal.
Egal.
Bislang habe sie Uwe nur als seltsamen Kauz betrachtet, der ihr ständig nachstelle. Nun aber, meinte sie, werde die Sache für sie interessant. Schließlich liege ein gewisser Reiz allein schon darin, einen alten Spießer wie mich zu schocken.«
    »Das hat sie nicht ernst gemeint«, vermutete Lea. »Christine wollte Sie provozieren.«
    Rudolf Zirner schien Leas Worte nicht mehr zu hören. Er lehnte an der Tür, mit gerötetem Gesicht und verkrampften Kinnbacken.
    »Und dann sagte sie noch«, stieß er gepresst hervor, »der Versuch könnte sich lohnen, denn offenbar seien alle männlichen Herforths gute Liebhaber. Das könne man ja schon daran sehen, dass praktisch alle Frauen im Dorf hinter ihrem Vater her seien, was ja auch kein Wunder sei   –«, seine Stimme schwankte bedenklich, als er sich entschloss, auch den Rest des Zitats wiederzugeben, »–   bei impotenten alten Säcken wie mir.«
    Lea hörte, wie Kai scharf die Luft einzog. Diesen Teil der Geschichte hatte sein Onkel offensichtlich nicht einmal ihm anvertraut. Rudolf Zirner war verstummt, doch Lea konnte sich den weiteren Ablauf ohne Mühe zusammenreimen.
    »Lassen Sie mich raten«, sagte sie kalt. »Sie sind auf den Waldweg abgebogen, haben Christine aus dem Auto gezerrt und ihr gewaltsam bewiesen, dass Sie kein impotenter alter Sack waren. Und dann haben sie sie vermutlich erwürgt, die Sickergrube freigescharrt – deren Lage nur Ihnen bekannt war   –, Christines Körper hineingezwängt und den Deckel wieder mit Erde bedeckt. Zu Ihren Gunsten will ich voraussetzen, dass Sie das Mädchen für tot hielten. Tatsächlich jedoch erwachte sie einige Zeit später und schrie um Hilfe. Am nächsten Morgen – wahrscheinlich, nachdem sich die Nachricht von Christines Verschwinden im Dorf verbreitet
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