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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen
Autoren: dtv
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der einst einem sechzehnjährigen Mädchen gehört hatte und nun in einer Abwassergrube schwamm. Rudolf Zirner hatte Christine getötet, und er sollte sich seiner Verantwortung stellen.
    Leas Wunsch ging in Erfüllung, jedoch anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Als sie sich eben entschlossen hatte, auszuscheren und einen Überholversuch zu wagen, wurde ihre Aufmerksamkeit von einer Erscheinung am linken Straßenrand abgelenkt. Im Scheinwerferlicht blitzte der abgeknickte Leitpfosten auf, und keine zehn Meter entfernt, im Dunkeln unter den Bäumen, schimmerte das unnatürlich helle Gesicht der geisterhaften Erscheinung, die Augen starr auf die Straße gerichtet. Wie gewöhnlich stand sie an der Einmündung des Wirtschaftswegs, der zu dem verfallenen Haus führte – dem Ort, an dem Christine Herforth vergewaltigt und ermordet worden war.
    Einundzwanzig Uhr,
dachte Lea.
Es ist ihre Zeit. Sie ist wieder da.
    Sie überwand den Schreck rasch, da sie die Erscheinung schon mehrfach gesehen hatte und mittlerweile zu wissen glaubte, wer sich hinter der Maske verbarg. Nicht so Rudolf Zirner: Ihm musste sie wie ein Schatten aus der Vergangenheit erscheinen, ein Racheengel, eine Furie, heraufgestiegen aus den Tiefen der Unterwelt – eben im rechten Moment, da er versuchte, den Konsequenzen seiner grausamen Tat zu entkommen. Lea erinnerte sich, dass Zirner schon bei ihrem ersten Gespräch bekräftigt hatte, er habe die Erscheinung nie gesehen und halte sie für pure Einbildung. Dass sie nun leibhaftig dort stand und ihren starren Blick auf ihn richtete, war wie ein übernatürliches Zeichen, eine Mahnung, ein drohendes Omen.
    Lea trat gerade noch rechtzeitig auf die Bremse, als sie bemerkte, dass der BMW vor ihr schlagartig an Tempo verlor und zu schlingern begann. Ihr Wagen blockierte mit kreischenden Reifen, sodass sie einen Augenblick vollauf damit beschäftigt war, den Wagen wieder unter Kontrolle zu bringen. Ihrem Vordermann jedoch erging es weit übler: Sein Fahrzeug hatte zwar Tempo verloren, aber offensichtlich auch den Kurs. Es scherte zum rechten Straßenrand aus, brach knirschend einen Leitpfosten um, schrammte mit dem Kotflügel durch dichtes Gestrüpp und knallte schließlich gegen eine Kiefer.
    Lea brachte ihren Wagen zum Stehen, stieß die Tür auf und rannte zu dem Verunglückten hinüber. Rudolf Zirner hing mit kalkweißem Gesicht in seinem Sitz, die Augen geschlossen und mit offenem Mund atmend, eine Hand auf sein Herz gepresst.
    »Herr Zirner?«, stieß Lea hervor, nachdem sie die Fahrertür aufgerissen hatte. »Was ist mit Ihnen?«
    Er wandte ihr das schweißbedeckte Gesicht zu und blinzelte verwirrt, als habe er Mühe, sie zu erkennen.
    »Mein Herz   …«, flüsterte er gepresst. »Ich brauche   …«
    Er fingerte nach der Brusttasche seines Sakkos. Lea, die seine Absicht begriff, kam ihm zu Hilfe, streckte eine Hand aus und zog ein Fläschchen mit einem Pumpzerstäuber hervor.
    »Zweimal   …«, keuchte Rudolf Zirner, wobei er den Mund öffnete. »Unter die Zunge   …«
    Lea tat wie ihr geheißen, setzte das Spray an und betätigte den Zerstäuber. Dann griff sie automatisch in ihre Jackentasche, erinnerte sich jedoch erschrocken, dass Kai ihr das Handy abgenommen hatte.
    Sie blickte den alten Mann an, der sich bemühte, gleichmäßig zu atmen. »Haben Sie ein Handy?«
    Zirner nickte schwach und zeigte in Richtung Handschuhfach.Glücklicherweise fand Lea das Telefon und schaltete es ein.
    Bitte nicht wieder das Funkloch!,
dachte sie angespannt, als das Display aufleuchtete.
Bitte lass es funktionieren!
    Das Handy tat ihr den Gefallen, und mit einem erleichterten Seufzen wählte Lea den Notruf.
     
    Während sie in knappen Worten das Geschehen schilderte und den Notarztwagen orderte, hörte sie leise Schritte. Lea wandte sich um, das Handy noch am Ohr, und erkannte die schattenhafte Gestalt mit dem unnatürlich hell geschminkten Gesicht, die langsam auf den verunglückten Wagen zukam. Erst jetzt war deutlich zu erkennen, dass der Mann eine Perücke und tiefschwarze Kleidung trug. Lea folgte ihm mit den Augen, während er in einigem Abstand an ihr vorbeiging und vor der eingedellten Motorhaube stehen blieb. Er verharrte und blickte ins Innere des Wagens, direkt in das bleiche Gesicht Rudolf Zirners, der ungläubig zurückstarrte.
    »Machen Sie schnell!«, beendete Lea das Gespräch. Dann schaltete sie das Handy aus und näherte sich vorsichtig dem Mann, der soeben eine Hand erhob, um sich die
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