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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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kommen sah, und winkte. Lea stoppte, stieg aus und schüttelte ihr die Hand.
    »Hallo, Frau Ilkic! Wie geht es Uwe?«
    »Erstaunlich gut«, antwortete die Anwältin. »Er wartet schon auf Sie. Ich würde gern dabei sein, denn er hat noch nie so viel Besuch auf einmal gehabt und ist entsprechend aufgeregt. Sicher haben Sie sich viel zu erzählen.«
    »Zu
erzählen? «
Lea runzelte die Stirn.
    »Sie werden staunen!«, versprach Frau Ilkic lächelnd. »Er kann inzwischen einige Worte sprechen – und das hat er wohl Ihnen zu verdanken. Ich habe schon immer geahnt, dass seine Stummheit auf ein Trauma zurückzuführen ist, auch wenn ich natürlich nicht die leiseste Vorstellung hatte, worum es sich dabei handelte. Er konnte sich ja nicht mitteilen – und wollte es wohl auch nicht, denn er vertraute niemandem. Ich wusste lange Zeit nicht einmal,dass er seinen Namen geändert hatte. Jetzt ist alles anders: Seine Seele wurde befreit, und mit ihr seine Sprache.«
    Lea schluckte betreten. »Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist.«
    »Ich auch nicht«, gab Frau Ilkic zu. »Aber Mutismus ist ein komplexes und kaum verstandenes Phänomen. Manche Betroffene verlieren die Sprache für immer, andere nur für Tage oder Monate.«
    Inzwischen waren auch Jörg, David und zuletzt Maja ausgestiegen, die sich im Hintergrund hielt und die Anwältin mit gerunzelter Stirn musterte. Frau Ilkic lächelte wohlwollend.
    »Ihre Kinder?«, fragte sie.
    »Mein Sohn«, korrigierte Lea und wies auf David. »Und seine Freundin, Maja.«
    »Hallo!«, grüßte die Anwältin. »Ich bin Dorothea Ilkic, die Betreuerin von Herrn Berger.«
    »Betreuerin?«, fragte Maja ungläubig.
    »Herr Berger ist schwerbehindert«, erklärte Frau Ilkic freundlich. »Ich kümmere mich um seine rechtliche Vertretung, seine Geschäfte und alle Angelegenheiten, die das Haus betreffen. Meine Kanzlei ist auf solche Betreuungen spezialisiert.« Sie blickte zum Haus hinüber, wo sich soeben die Eingangstür geöffnet hatte und eine Gestalt erschienen war.
    »Er erwartet uns«, stellte Frau Ilkic fest und nickte den Besuchern aufmunternd zu. »Kommen Sie!«
    Gemeinsam gingen sie zum Haus hinüber und stiegen die Freitreppe hinauf, Lea und die Anwältin vorneweg, hinter ihnen Jörg Hausmann und als Nachhut David und Maja.
    Uwe Berger erwartete sie an der Tür. Zu Leas Erstaunen lächelte er, obwohl seinem Gesicht anzumerken war, dass ihm diese mimische Leistung ungewohnte Müheabverlangte. Er sah anders aus, als sie ihn in Erinnerung hatte – was freilich nicht viel bedeutete, da sie ihm bislang immer nur im Halbdunkel begegnet war. Nun, ohne Kostümierung, irritierte Lea sein kantiges Kinn nicht mehr. Auffällig schienen ihr eher die zierliche Nase, die hohe Stirn und die sanftbraunen Augen mit den langen Wimpern – ohne Zweifel ein Erbteil der Herforths. Sein Haar war kurz geschnitten, an den Schläfen bereits gelichtet und von grauen Fäden durchzogen. Er trug tiefschwarze, etwas zerschlissene Kleidung, hatte jedoch – offenbar zur Feier des Anlasses – eine vergilbte weiße Krawatte angelegt.
    »Hallo, Uwe«, grüßte Frau Ilkic. »Hier ist dein Besuch. Frau Petersen kennst du ja schon.«
    Uwes Händedruck war unsicher, fast schlaff, doch unerwartet warm. Er blickte sie an, und Lea las etwas schwer Definierbares in seinen Augen. War es Zuneigung? Dankbarkeit?
    »Ich freue mich, Sie wiederzusehen«, sagte sie und wies auf ihre Begleiter. »Das ist Jörg Hausmann, ein Kollege von mir. Ich habe ihm viel über Sie erzählt, und er wollte gern mitkommen und Sie kennenlernen. Das ist mein Sohn David, und das ist Maja. – Maja? Das ist Tom Thanatar.«
    Lea unterdrückte ein Schmunzeln, als sie bemerkte, dass Majas Coolness vollständig verschwunden war. Sie starrte Uwe Berger mit großen Augen und halb geöffnetem Mund an. In ihrem Gesicht spiegelten sich Erstaunen und Entsetzen zugleich. Lea konnte es ihr nicht verdenken. Noch bis vor kurzem hatte Maja nicht glauben wollen, dass das Foto auf der Webseite des Verlages eine werbewirksame Fälschung war. Nun stellte sich ihr Idol als ein Mann in mittleren Jahren heraus, leicht untersetzt, mit ergrauendem Haar und einem unsicheren Lächeln auf dem Gesicht.
    Uwe ging voran, und sie folgten ihm durch einen Flur in ein geräumiges Wohnzimmer, dem man ansah, dass es selten benutzt wurde. Die Möbel waren alt, aber sorgfältig renoviert und blank geputzt wie auf einer Ausstellung. Rings um einen ovalen Tisch standen mehrere

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