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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen
Autoren: dtv
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aufzubessern, indem er für ein paar Mark die Innenräume einer benachbarten Szenekneipe mit Wandbildern dekorierte. Der Laden wurde hauptsächlich von Gothic-Fans besucht und dank seiner Zeichnungen zu einer Art Kultstätte: Grufties aus ganz Norddeutschland pilgerten dorthin, um sie zu sehen. Irgendwann verirrtesich auch eine Kunstagentin in diese Kneipe. Sie fragte beim Personal nach dem Maler, und es gelang ihr, Kontakt zu Uwe aufzunehmen und ihn zu überzeugen, dass er seine Werke einem Verlag anbieten müsse.«
    »Und das hat er getan?«
    »Die Agentin hat alles für ihn geregelt, da er ja nicht sprechen konnte. Kurze Zeit darauf hatte Uwe einen Vertrag mit einem bekannten deutschen Comicverlag, und später wechselte er zu Verhanden in Holland. Seine Comics waren so erfolgreich, wie selbst die Agentin es nicht erwartet hätte; sie erlangten Kultstatus und wurden in zahllosen Auflagen gedruckt. Als Uwe dreißig wurde, verfügte er über ein respektables Vermögen. Zu dieser Zeit wurde ich mit seiner Betreuung beauftragt, da die Verwaltung seiner Finanzen besser von einer juristisch geschulten Person als von einem Psychiater zu erledigen war. Als er dann den Wunsch äußerte, diesen Hof zu kaufen, dachte ich mir nichts dabei.«
    »Er hat ihn tatsächlich gekauft?«, fragte Lea stirnrunzelnd. »Kaum zu glauben   … Als leiblicher Sohn Martin Herforths hätte er ihn erben können.«
    »Ja, aber dazu hätte er seine Identität offenlegen müssen.« Frau Ilkic nickte nachdenklich. »Und genau das wollte er offenbar vermeiden. Er zog es vor, als Fremder aufzutreten, um von den Leuten im Dorf nicht erkannt zu werden – und nun begreife ich auch, warum. Sein Plan bestand darin, jenes Verbrechen aufzuklären, das ihn seit Jahrzehnten verfolgte, ihn seiner Stimme beraubt und seine geistige Gesundheit ruiniert hatte   … Er muss diese Christine geliebt haben.«
    »Ja, das hat er«, sagte Lea. »Wahrscheinlich war sie der einzige Mensch, der ihm jemals mit Verständnis begegnete, denn sie waren beide Außenseiter. Die Erkenntnis, dass Christine seine Halbschwester war, muss Uwe erheblichverwirrt haben. Er fühlte sich schuldig und sah die Vorwürfe seines Vaters bestätigt, dass er krank und verdorben sei. Dennoch liebte er sie – und ich glaube, er tut es bis heute.«
    »Von alldem ahnte ich natürlich nicht das mindeste«, fuhr Frau Ilkic fort. »Ich wurde lediglich beauftragt, den Kauf abzuwickeln und gegenüber Behörden und Anwohnern als Uwes Vertreterin zu agieren. Seit er hier wohnte, habe ich ihn nur noch selten besucht. Es schien, dass er meine Hilfe kaum benötigte. Gelegentlich schickte er einen knappen Brief mit der Mitteilung, es sei alles in Ordnung.«
    »Er wollte ungestört seinem Plan nachgehen«, folgerte Lea. »Es ließ ihn nicht los, dass er damals, im Sommer 1986, Christines Stimme in der Nähe des verfallenen Hauses im Wald gehört hatte. In der Psychiatrie wird man ihm vermutlich erklärt haben, dass er nur fantasierte. Er aber war inzwischen überzeugt, dass Christine ermordet worden war. Die Polizei hatte den Fall natürlich längst zu den Akten gelegt, und den Verdachtsmomenten eines seelisch Gestörten, der nicht einmal sprechen konnte, hätte niemand Bedeutung beigemessen. Also versuchte er, Christines Tod auf eigene Faust aufzuklären. Dabei verfolgte er eine Doppelstrategie: Er grub jahrelang auf der Waldlichtung nach ihrer Leiche, und zugleich kostümierte er sich, um vorbeikommenden Autofahrern an der Straße in der Gestalt seiner Halbschwester zu erscheinen.«
    »Ich verstehe das trotzdem nicht«, sagte Frau Ilkic kopfschüttelnd. »Welche Absicht verfolgte er damit?«
    Lea verzog den Mund. »Ich bin mir darüber auch nicht vollständig im klaren. Ich glaube, er wollte die Erinnerung an das Verbrechen lebendig halten, indem er dafür sorgte, dass Christines Verschwinden Gesprächsthema imDorf blieb. Zugleich hat er jeden Autofahrer, der anhielt, zu der Lichtung geführt, wo er ihre Leiche vermutete. Es war seine Art, auf das Geschehen und den mutmaßlichen Tatort hinzuweisen. Vielleicht hoffte er auch, Christines Mörder würde sich eines Tages selbst verraten, wenn er das Gespenst an der Straße erblickte – und so ist es ja letztlich auch gekommen.«
    »Ob er gewusst hat, dass sein Ziehvater der Mörder war?«, warf Maja ein, die dem Gespräch mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt war.
    »Ich glaube nicht«, meinte Lea. »Andernfalls wäre er wohl zielstrebiger vorgegangen.
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