Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Vermutlich ahnte er nur, dass der Mörder zu den Männern gehören musste, die schon 1986 im Dorf gelebt und ein Motivgehabt hatten, sich an den Herforths zu rächen. Das traf auf viele zu, insbesondere auf die von Martin Herforth betrogenen Ehemänner. Es gab aber keinen Grund für Uwe, ausgerechnet seinen Ziehvater zu verdächtigen, denn er wusste nichts von der Sickergrube, deren Lage nur Rudolf Zirner bekannt war.«
    »Ich begreife trotzdem nicht, wie er zehn Jahre lang inkognito auf diesem Hof leben konnte«, sagte Jörg, »oh ne dass der vermeintliche Geist jemals mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Die Lichtung ist doch kaum einen Kilometer entfernt und liegt an derselben Straße.«
    »Tja«, sagte Lea nachdenklich, »offenbar hat er erfolgreich den Eindruck erweckt, das Haus sei unbewohnt. Wie er hier gelebt hat, kann ich mir allerdings nur schwer vorstellen.«
    »Ich schon«, meinte Frau Ilkic. »Uwe hat zeitlebens sehr zurückgezogen gelebt. Er braucht kaum mehr als ein Bett, seinen Zeichentisch, Stifte und Papier.«
    »Aber er muss doch irgendwo eingekauft haben.«
    Frau Ilkic zuckte die Achseln. »Er hat ein Fahrrad.Wahrscheinlich hat er einen Bogen um Verchow gemacht, um in einen der Nachbarorte zu fahren.«
    »Hat er sich wirklich als Frau verkleidet?«, fragte Maja. Ihr Gesichtsausdruck schwankte zwischen Faszination und Befremdung.
    »Ich wusste nichts davon«, antwortete Frau Ilkic, »aber Frau Petersen hat es ja gesehen. Jetzt, da ich die Hintergründe kenne, erscheint mir sein Schicksal noch weit tragischer als früher. Unter günstigeren Bedingungen hätte ein normaler Mann aus ihm werden können, sensibel, gut aussehend und dazu hochbegabt.« Nachdenklich leerte sie ihr Glas. »Dieser Rudolf Zirner muss Uwes seelische Gesundheit schon vor Christines Verschwinden ruiniert haben, sonst hätte ihr Tod ihn vielleicht traumatisiert, aber doch nicht für Jahrzehnte mit Stummheit geschlagen.«
    »Der Meinung bin ich auch«, stimmte Lea zu. »Zirner gab ihm die Schuld für das Scheitern seiner Ehe und ließ es ihn von Anfang an spüren. Seinen ganzen Hass gegen Martin Herforth übertrug er auf den Jungen.«
    »Schade, dass es zu keiner Versöhnung mehr kommen konnte«, meinte Frau Ilkic.
    Lea nickte. Diese Chance war in der Tat verpasst, denn Rudolf Zirner war nach vier Stunden auf der Intensivstation des Kreiskrankenhauses an Herzversagen gestorben. Lea hatte erst Tage später davon erfahren, denn nach den letzten Ereignissen in Verchow hatte sie Kai nicht wiedergesehen, und er hatte sich auch nie bei ihr gemeldet. Lea hatte ihrerseits darauf verzichtet, ihn anzurufen, wobei sie sich noch immer wunderte, dass sie das dramatische Ende ihrer ebenso kurzen wie heftigen Urlaubsaffäre ohne weiteres verkraftet hatte. Sie bereute nichts, aber sie trauerte auch nicht. Kai hatte ihr schöne Stunden geschenkt und ihre schlafenden Sinne geweckt. Am Endejedoch hatte sich gezeigt, dass seine Loyalität ausschließlich seinem Onkel galt, den er nun wie geplant beerben würde. Nicht einmal seine Drohung, Anzeige gegen Jörg zu erstatten, hatte Kai wahr gemacht – vermutlich, um Lea nicht im Gerichtssaal begegnen zu müssen.
    Ihre Gedanken wurden unterbrochen, denn eben knarrte die Treppe. Uwe kam zurück ins Zimmer, in den Händen ein schmales Heft.
    »Ah! Ich glaube, ich weiß, was das ist«, sagte Frau Ilkic. »Er hat in den letzten Wochen Tag und Nacht daran gearbeitet.«
    Uwe lächelte unsicher. Dann legte er das Heft auf den Tisch und schob es langsam zu Lea herüber. Lea betrachtete das Titelblatt. Der Mund klappte ihr auf, als sie in ihr eigenes Gesicht blickte.
    »Wahnsinn!«, flüsterte Maja beeindruckt.
    Unter dem Namenszug »Tom Thanatar« prangte der Titel des Comics,
Purgatorium
, in flammend roten Buchstaben. Darunter waren die Umrisse düsterer Bäume zu erkennen, zwischen denen ein Gesicht hervorspähte – Leas Gesicht, bis in jede Einzelheit, mit wachsamen Augen dem Betrachter zugewandt. Beinahe ehrfürchtig schlug Lea das Heft auf und blätterte staunend eine Seite nach der anderen um, während alle anderen sich über den Tisch beugten, um mitzuschauen. Die Geschichte – wie üblich ohne Sprechblasen und Text – handelte von der weiblichen Hauptperson mit Leas Gesicht, die einen dunklen Wald durchstreifte. Schattenhafte Gestalten lauerten im Unterholz, Äste griffen mit knorrigen Fingern nach ihr, und gesichtslose Wesen in wallenden Gewändern verstellten ihr den Weg. Die Heldin jedoch schlug
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher