Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
später das Haus der Zirners erreichte, stand Kais Wagen bereits vor dem Gartenzaun. Atemlos schloss Lea die Haustür auf – und stieß im Flur beinahe mit ihm zusammen.
    »Oh mein Gott!«, stöhnte er, als er ihre beschmutzte Kleidung und den fiebrigen Ausdruck in ihren Augen bemerkte.
    »Kai!« Erleichtert sank sie in seine Arme, zu aufgewühlt, um darüber nachzudenken, dass sie wahrscheinlich recht unangenehm roch. »Ich habe sie gefunden   … Christine   … draußen bei dem verlassenen Haus im Wald   …«
    Er stellte keine Fragen. Stattdessen hielt er sie fest und streichelte mit einer Hand ihr wirres Haar.
    »Es tut mir so leid«, sagte er seltsam ruhig. »Ich wusste es nicht, das schwöre ich dir. Er hat es mir heute erst erzählt. Als wir dann zurückkamen, hat er entdeckt, dass du an seinen Unterlagen warst   …«
    Die Treppe knarrte, und Rudolf Zirner kam in den Flur herab, in der einen Hand eine Reisetasche, in der anderen eine Straßenkarte. Als er Lea erblickte, hielt er inne und musterte sie mit unergründlicher Miene.
    »Nimm meinen Wagen!«, sagte Kai, fingerte, ohne Lea loszulassen, seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche und warf ihn seinem Onkel zu. »Ich würde dich gern fahren, aber ich glaube, ich muss mich um Lea kümmern.«
    Rudolf Zirner nickte, während Lea entsetzt zwischen den beiden Männern hin und her blickte.
    »Was hat das zu bedeuten?«, stieß sie hervor.
    Kai seufzte. »Wie ich dich kenne, wirst du dich wahrscheinlich nicht davon abhalten lassen, die Polizei zu rufen.« In seiner Stimme lag echtes Bedauern. »Daher ist es wohl das Beste, wenn Rudi erst einmal nicht zu Hause ist.«
    Entgeistert starrte Lea zu dem Mann hinüber.
    »Sie?« Endlich begriff sie, was vor sich ging, und eine Gänsehaut fuhr ihr über den Rücken.
» Sie
waren es?«
    Rudolf Zirner antwortete nicht, doch sein Blick bestätigte Leas Vermutung.
    »Sie wollen fliehen?«, fragte sie mit einer jähen Kälte in der Stimme, die sie von sich selbst nicht kannte.
    »Ich wäre froh, wenn Sie mir eine andere Wahl ließen«, sagte Zirner ruhig. »Aber wahrscheinlich hat Kai recht. Sie sind entschlossen, die Polizei zu rufen, nicht wahr?«
    »Das bin ich allerdings«, sagte Lea. Und dann brach es ganz aus ihr heraus: Sie schrie, während sie vergeblich gegen Kai ankämpfte, dessen Umarmung sich in einen festen Klammergriff verwandelt hatte. »Warum haben Sie ihr das angetan?«
    »Lea!«, keuchte Kai, der ihre Arme gepackt hatte. »Sei doch vernünftig! Das Ganze ist vierundzwanzig Jahre her! Wem hilfst du damit, wenn du einen herzkranken Siebzigjährigen ins Gefängnis bringst?«
    »Sie hat noch gelebt!«, schrie Lea, die Kai ignorierte, seinem Onkel zu. »Sie ist da unten wieder zu sich gekommen und hat um Hilfe geschrien! Jemand hat sie gehört! Wahrscheinlich ist sie erst beim nächsten Regen in dieser Röhre ertrunken!«
    Rudolf Zirner war bei diesen Worten sehr blass geworden. Die Knöchel seiner Hand traten weiß hervor.
    »Das ist doch Unsinn«, sagte er sichtlich verunsichert. »Wer will sie gehört haben?«
    »Ihr Sohn!«, fauchte Lea, die es aufgab, sich gegen Kais Umklammerung zu wehren. »Kein Wunder, dass er an jenem Tag den Verstand verlor – nach dem, was er gehört hatte!«
    Rudolf Zirner tauschte einen Blick mit Kai, der resigniert die Schultern zuckte, als wollte er sich wortlos fürseine Indiskretion entschuldigen. Der alte Mann jedoch verzog keine Miene.
    »Der Mensch, von dem Sie da sprechen, ist nicht mein Sohn«, sagte er. »Und sein Geist war von Anfang an verwirrt, nicht erst seit jenem Tag. Wahrscheinlich hat er sich alles nur eingebildet. Er hörte schon seit Jahren Stimmen.« Rudolf Zirner schüttelte langsam den Kopf. »Er war kein normaler Junge – schon äußerlich ein halbes Mädchen. Er war verträumt, verweichlicht, ein Schulversager und zu keiner ordentlichen Arbeit in der Lage. Ich ahnte von Anfang an, dass er nicht mein Sohn war   … irgendetwas Krankes, Verdorbenes war in ihm, wahrscheinlich ein Erbteil seines Erzeugers. Als Karin es mir beichtete, war ich geradezu erleichtert. Können Sie sich das vorstellen? Ich war
erleichtert,
dass dieser Junge, der mich von Tag zu Tag beschämte, nicht mein Fleisch und Blut war.«
    In Leas Geist rastete etwas ein.
    »Er war Martin Herforths Sohn, nicht wahr?«, erriet sie. »Also gehörten auch Sie zu den betrogenen Ehemännern.«
    »Dieser sogenannte Maler hatte mit fast
jeder
Frau im Dorf irgendwann ein Verhältnis.« Rudolf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher