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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen
Autoren: dtv
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ohne auf die Hintergründe einzugehen.
    »Wendland – klingt gut«, meinte David. »Da sollen ziemlich coole Leute leben. Du kannst ja noch mal anrufen, wenn du dort bist.«
    »Mach ich.«
    »Okay, dann viel Spaß!«
    Das klang, als wollte er das Gespräch beenden. Lea stutzte. »Hast du’s eilig?«
    »Ähm   … na ja«, druckste David herum. »Ich würde ganz gerne in den Gemeinschaftsraum gehen. Wir wollen eine DVD anschauen.«
    »Welchen Film?«
    »›Blair Witch Project‹.«
    »Uh!«, machte Lea. »Das ist doch diese Horrorgeschichte, wo Leute sich im Wald verirren, oder?«
    »Ja. Ist doch cool«, lachte David, »genau die richtige Einstimmung für die morgige Wanderung. Außerdem ist es ein Horrorfilm   … und, na ja   …«
    »…   und Maja steht auf Horrorfilme«, erriet Lea. »Habe ich recht? Ist sie dabei?«
    »Gut getippt«, bestätigte David. »Aber ich muss jetzt wirklich los   … mach’s gut, Mum!«
    »Du auch.«
    Mit einem gewissen Bedauern klickte Lea das Handyaus. Gern hätte sie länger geplaudert. Die Ablenkung war ihr höchst willkommen gewesen.
    Ablenkung wovon? ,
fragte sie sich.
Ist es schon so schlimm, dass ich keinen Abend mehr allein zu Hause ertragen kann
?
    Sie griff nach der Fernbedienung, stellte den Ton lauter und verfolgte eine Weile mit mäßigem Interesse den Krimi. Er handelte, soweit sie begriff, von einem vermissten Kind.
    Leas Gedanken verirrten sich zurück zu der anonymen E-Mail .
    Ein verschwundenes Mädchen   …
    Sie brauchte keinen Psychiater, um zu wissen, warum der Hinweis sie derart anhaltend beschäftigte. Es hatte nichts mit der Geistererscheinung zu tun. Lea war ein rationaler Mensch und glaubte ebenso wenig an Geister wie an Wahlversprechen politischer Parteien oder Haltbarkeitsdaten auf Lebensmittelpackungen. Verschwundene Menschen jedoch waren ein Thema, das sie schon immer tief bewegt hatte – zumindest seit ihrem siebzehnten Lebensjahr.
    Iris   …
Beim Gedanken an ihre einstmals beste Freundin stellte sich wieder der nie vergessene Schmerz ein.
Wirst du denn nie aufhören, mich zu plagen?
    Erinnerungen erwachten, zogen vorbei wie Wolken, trübten ihr Gesichtsfeld und ließen das Geschehen auf dem Bildschirm zu einem Muster aus bedeutungslosen Pixeln verschwimmen. Seufzend griff Lea nach der Fernbedienung, stellte den Ton leiser und lehnte sich mit halb geschlossenen Augen zurück.
     
    Sie musste eingeschlafen sein, denn plötzlich stürzte sie rückwärts durch die Zeit und sah sich in dem kleinen Dachzimmer, dessen Wandschrägen mit Postern beklebtwaren, auf dem Bett mit der gestreiften Tagesdecke und dem rosa Plüschelefanten sitzen. Iris saß ihr im Schneidersitz gegenüber, jung wie damals, mit offenem schwarzem Haar und einer Zigarette in der Hand.
    »Riecht deine Mutter es nicht, wenn du hier drin rauchst?«, hörte Lea sich fragen.
    Iris grinste und winkte ab. »Die soll sich bloß nicht so anstellen! Schließlich ist das mein Zimmer.« Sie hielt Lea die Zigarettenpackung hin. »Auch eine?«
    Stumm schüttelte Lea den Kopf und bemerkte dabei, dass ihr eigenes Haar schulterlang war, so lang, wie sie es seit ihrem achtzehnten Geburtstag nicht mehr getragen hatte.
    »Hey, nun werd bloß nicht spießig!«, neckte Iris. »Es ist bloß Tabak. Etwas Härteres biete ich dir lieber gar nicht erst an.«
    » Hast
du denn etwas Härteres?«, fragte Lea misstrauisch.
    Iris zuckte mit einem geheimnisvollen Lächeln die Achseln. »Schon möglich.«
    Lea schwieg gekränkt. Es war das erste Mal, dass Iris ihr etwas vorenthielt. Seit sie sich in der Mittelstufe kennengelernt hatten und drei Jahre lang die besten Freundinnen gewesen waren, hatten sie nie Geheimnisse voreinander gehabt. Alles hatten sie geteilt, von ihren ersten Liebesabenteuern bis zum pubertären Frust über Eltern, Schule und den Rest der Welt. Selbst Kleidungsstücke hatten sie ausgetauscht, da beide annähernd die gleiche Figur hatten. Immer noch hing ein rosafarbenes Top in Leas Kleiderschrank, das Iris ihr einst bei einem Campingausflug überlassen und nie zurückverlangt hatte. Iris hatte Lea beigestanden, als diese von ihrem ersten Freund verlassen worden war, und Lea hatte Iris getröstet, als deren Vater seine Familie verlassen hatte. Sie hatten zusammengelacht, geweint, sich in den Armen gehalten, oft sogar im selben Bett geschlafen. Seit kurzem aber war alles anders geworden – genauer gesagt, seit Iris mit Dirk zusammen war, einem älteren Jungen, der die Schule abgebrochen
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