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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen
Autoren: dtv
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hatte und sich, wie es schien, mit Drogengeschäften auf der Straße durchschlug.
    Gern hätte Lea darüber gesprochen.
Ich habe das Gefühl, dass wir uns voneinander entfernen
, hätte sie sagen können, oder vielleicht:
Ich habe Angst, dich zu verlieren
. Doch stattdessen sagte sie etwas Dummes, etwas Verhängnisvolles, etwas, das den aufbrechenden Graben zwischen ihnen erst recht vertiefte.
    »Ich glaube, dieser Junge ist nicht gut für dich.«
    Iris’ dunkelbraune Augen zogen sich in jäher Kälte zusammen.
    »Du hörst dich allmählich
wirklich
an wie meine Mutter«, sagte sie, drückte resolut ihre Zigarette aus und erhob sich. Mit dem Rücken zu Lea sah sie aus dem Fenster.
     
    Lea erwachte mit einem gequälten Seufzen auf dem Sofa. Die Wanduhr zeigte halb elf; sie musste mehrere Stunden geschlafen haben. Benommen fuhr sie hoch, stellte fest, dass der Fernseher immer noch lief, und schaltete ihn ab.
    Dann blieb sie eine Weile sitzen, lauschte in sich hinein und rekapitulierte den Traum. Er war, bis ins letzte Detail, eine getreue Wiedergabe jener Szene, die sich vor neunzehn Jahren tatsächlich abgespielt hatte. Selbst der Schmerz fühlte sich an wie damals, frisch, bohrend und dunkel wie eine unheilvolle Ahnung. Er hatte ihr angekündigt, dass sie im Begriff gewesen war, ihre beste Freundin zu verlieren.
    Und genau so war es gekommen – Lea erinnerte sich mit Grauen daran. Kurz vor dem Abitur war Iris von einem Tag auf den anderen verschwunden, ohne eine Nachrichtzu hinterlassen. Die Polizei war eingeschaltet worden, und auch Lea hatte zahlreiche Fragen beantworten müssen. Die Polizisten hatten, wie üblich, zu beruhigen versucht: Es komme häufig vor, dass Scheidungskinder von zu Hause wegliefen, man müsse einfach abwarten, wahrscheinlich sei alles in Ordnung. Erst später erfuhr Lea von Iris’ Mutter, dass diese Drogenbestecke im Zimmer ihrer Tochter gefunden hatte. Die Polizei hatte die Löffel und Spritzen untersucht und auf Heroin geschlossen. Offenbar war Iris schon längere Zeit abhängig gewesen. Sie blieb verschwunden, und niemals sandte sie irgendein Lebenszeichen, weder an Lea noch an ihre Familie.
    Jahre waren vergangen, ohne dass Lea den Verlust ihrer Freundin jemals ganz verwunden hatte. Schuldgefühle hatten sie geplagt, weil sie im entscheidenden Moment die falschen Worte gesagt und Iris gekränkt hatte. Dann wieder war die Wut in ihr hochgestiegen, weil sie sang- und klanglos verlassen worden war. Die Gefühle jedoch waren verblasst, und am Ende waren lediglich eine tiefe Traurigkeit und eine große Sehnsucht zurückgeblieben. Manchmal stellte sie sich vor, dass Iris womöglich einen Entzug überstanden, eine Arbeit aufgenommen und irgendwo eine Familie gegründet haben könnte. Wahrscheinlich war es jedoch nicht, denn sie hatte recherchiert und herausgefunden, dass es in ganz Deutschland und sogar in den benachbarten Staaten keine amtlich erfasste Iris Lukassen gab. Lea scheute sich, die naheliegendste Folgerung zu ziehen, obgleich sie wusste, dass Heroinabhängige selten alt wurden. Noch heute ertappte sie sich dabei, dass sie aufmerkte, wenn in den Nachrichten von einer »unbe kannten weiblichen Leiche« die Rede war – wo auch immer der Fundort lag, in Niedersachsen, in Hamburg, selbst in Bayern oder in Ostdeutschland.
    Lea versuchte, das fruchtlose Gegrübel abzuwürgen, dem sie jedes Mal verfiel, wenn sie an Iris dachte. Mit einer resoluten Geste wischte sie sich über die Augen, erhob sich vom Sofa und ging ins Schlafzimmer. Dort setzte sie sich an den Computer, rief das Internet auf und las nochmals die Einträge bei »Ghost-Trusters«.
     
    … erzählt wird nur, dass es ein Mädchen ist, das an der Stelle (oder irgendwo in der Gegend) verschwunden ist. Angeblich ist das schon lange her. Es heißt, sie wurde ermordet, aber ihr Körper wurde nie gefunden.
     
    Wahrscheinlich, dachte Lea, war es ein sinnloses Unterfangen, dieser Geschichte nachzugehen. Was wollte sie damit erreichen? Hoffte sie vielleicht, dass sie endlich aufhören würde, von ihrer Jugendfreundin Iris zu träumen, dass sie sich von ihrer Trauer befreien konnte, indem sie dem Verschwinden irgendeines anderen Mädchens nachging, das sie nicht einmal gekannt hatte?
    Noch während sie darüber nachdachte, öffnete sie Google-Maps und begann, alle verfügbaren Informationen über das kleine Dörfchen Verchow und die kürzeste Anfahrtsroute zusammenzusuchen.
    Ich fahre dorthin
, beschloss sie spontan.
Gleich
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