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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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Phänomen in einem Labor, sie ist vielmehr äußerst nützlich. Mit meinem beinahe perfekten Erinnerungsvermögen und meiner Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, kann ich eine Situation blitzschnell erfassen und mich für das Vorgehen entscheiden, das am besten meinen Interessen dient; niemals bin ich unentschlossen. Die einzige Herausforderung besteht in theoretischen Fragen.
    Womit auch immer ich mich beschäftige, überall kann ich Muster sehen. Überall erkenne ich die Gestalt , die Melodie in den Tönen – in der Mathematik und den Naturwissenschaften, in Kunst und Musik, Psychologie und Soziologie. Beim Lesen von Texten kommt es mir so vor, als hangelten sich deren Verfasser mühsam von einem Punkt zum nächsten, blind nach den Verbindungen tastend, die sie nicht sehen können. Sie sind wie Menschen, die in Noten keine Musik erkennen können, die verzweifelt auf die Abschrift einer Bach-Sonate starren und zu erklären versuchen, warum auf die eine Note die nächste folgen muss.
    So herrlich diese Muster auch sind, sie wecken meinen Appetit auf mehr. Sicherlich gibt es noch weitere Gestalten von völlig anderen Ausmaßen und Dimensionen. Ihnen gegenüber bin auch ich blind; verglichen damit sind alle meine Sonaten nur isolierte Punkte im Raum. Ich habe keine Ahnung, wie solche Gestalten aussehen könnten, aber das wird sich noch zeigen. Ich möchte sie finden, sie begreifen. Noch nie zuvor habe ich etwas so sehr gewollt wie das.
    Der Arzt, der mich heute untersucht, heißt Clausen, und er verhält sich anders als die anderen Ärzte. Aus seinen Umgangsformen schließe ich, dass er seinen Patienten gegenüber für gewöhnlich eine ausdruckslose Maske trägt, aber heute fühlt er sich ein wenig unbehaglich. Er ist bemüht, Freundlichkeit auszustrahlen, aber das gelingt ihm nicht so gut wie den anderen Ärzten mit ihrer nichtssagenden Betriebsamkeit.
    »Der Test funktioniert so: Sie werden die Schilderungen verschiedener Situationen lesen, und jede von ihnen stellt ein Problem dar. Nach jedem Text sagen Sie mir bitte, was Sie tun würden, um das Problem zu lösen.«
    Ich nicke. »So einen Test hab ich schon einmal gemacht.«
    »Sehr schön.« Er tippt einen Befehl ein, und auf dem Bildschirm vor mir erscheint ein Text. Ich lese mir das Szenario durch: Es handelt sich um ein Problem, bei dem es darum geht, einen Zeitplan zu erstellen und Prioritäten zu setzen. Es ist ein realistisches Problem, was ungewöhnlich ist. Für den Geschmack der meisten Wissenschaftler hängt es zu sehr vom Zufall ab, ob man bei einem solchen Test gute Resultate erzielt. Ich zögere meine Antwort ein bisschen hinaus, und trotzdem ist Clausen von meiner Schnelligkeit überrascht.
    »Das ist sehr gut, Leon.« Er drückt eine Taste an seinem Computer. »Versuchen Sie es hiermit.«
    Wir gehen weitere Szenarien durch. Während ich den vierten Text lese, gibt sich Clausen große Mühe, gleichgültige Professionalität auszustrahlen. Mein Vorgehen bei diesem Problem ist für ihn von besonderer Bedeutung, aber er will nicht, dass ich davon etwas merke. Bei dem Szenario geht es um Hierarchien in einem Büro und um die heftige Konkurrenz wegen einer möglichen Beförderung.
    Ich verstehe nun, wer Clausen ist: ein Psychologe von der Regierung, vielleicht vom Militär, vermutlich aus der Forschungsabteilung der CIA. Mit dem Test wollen sie herausfinden, ob Hormon K das Potenzial hat, Strategen hervorzubringen. Aus diesem Grund fühlt er sich in meiner Anwesenheit unbehaglich: Er ist an den Umgang mit Soldaten und Regierungsangestellten gewöhnt, an Menschen, die ganz selbstverständlich Befehle befolgen.
    Vermutlich will die CIA mich haben, um weitere Versuche durchzuführen, bei entsprechenden Testergebnissen vielleicht auch an anderen Patienten. Danach werden sie dann Freiwillige aus ihren eigenen Reihen rekrutieren, deren Gehirne einem Sauerstoffmangel aussetzen und sie mit Hormon K behandeln. Ganz sicher möchte ich nicht zur CIA, aber mit meinen Testergebnissen habe ich bereits ihr Interesse geweckt. Jetzt kann ich nur noch meine Fähigkeiten herunterspielen und bei dieser Frage eine falsche Antwort geben.
    Ich schlage also eine eher dumme Vorgehensweise vor, und Clausen ist enttäuscht. Trotzdem machen wir weiter. Ich brauche nun mehr Zeit für die Szenarien und gebe schwächere Antworten. Zwischen den harmlosen Fragen sind die wirklich entscheidenden versteckt: Einmal geht es darum, die feindliche Übernahme eines Konzerns abzuwenden,
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