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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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sich keinerlei schädliche Nebenwirkungen.
    Die Untersuchung des Hirngewebes hat widersprüchliche Ergebnisse gebracht. Bei den hirngeschädigten Tieren sind neue Nervenzellen mit wesentlich mehr Dendriten gewachsen, doch bei den gesunden Versuchstieren hat sich durch das Medikament nichts verändert. Die Forscher schließen daraus, dass durch Hormon K nur die geschädigten Neuronen ersetzt werden, nicht jedoch die gesunden. Für die hirngeschädigten Tiere scheinen die neuen Dendriten ungefährlich zu sein: Bei der Computertomografie hat man keine Auswirkungen auf den Hirnstoffwechsel feststellen können, und bei den Intelligenztests gab es keine Veränderungen.
    Laut ihren Anträgen für klinische Studien wollen die Forscher von Sorensen das Medikament zunächst an gesunden Probanden testen und dann an unterschiedlichen Patienten: an Menschen, die einen Schlaganfall hatten, die unter Alzheimer leiden, oder an solchen wie mir, die im Koma liegen. Die vorläufigen Ergebnisse dieser Studien sind mir nicht zugänglich – selbst nach Anonymisierung der Patientendaten haben auf diese Informationen nur die beteiligten Ärzte Zugriff.
    Aus den Tierversuchen erfahre ich nichts über den Intelligenzzuwachs bei Menschen. Es scheint plausibel, dass die Intelligenz proportional zur Anzahl der Nervenzellen wächst, die durch das Hormon ersetzt wurden, und das wiederum hängt davon ab, wie groß der Schaden zu Beginn war. Das bedeutet, die größten Fortschritte gibt es bei den stark hirngeschädigten Patienten. Natürlich muss ich erst etwas über den Verlauf bei anderen Patienten erfahren, um diese Theorie zu belegen; das wird noch eine Weile dauern.
    Die nächste Frage lautet: Gibt es ein Plateau, oder bewirken zusätzliche Dosen des Hormons eine weitere Steigerung? Die Antwort darauf werde ich noch vor den Ärzten herausfinden.
    Ich bin nicht nervös; eigentlich sogar ziemlich entspannt. Ich liege einfach nur auf dem Bauch und atme ganz langsam. Mein Rücken fühlt sich taub an, man hat mir ein lokales Anästhetikum gespritzt und dann Hormon K ins Rückenmark injiziert. Intravenös würde es nicht wirken, weil das Hormon die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren kann. Es ist die erste derartige Injektion, an die ich mich erinnern kann, allerdings hat man mir gesagt, dass ich früher schon zwei erhalten habe – die erste noch im Koma, die zweite, als ich zwar schon wieder bei Bewusstsein war, aber noch ohne kognitive Fähigkeiten.
    Erneut Albträume. Eigentlich geht es darin nicht immer um gewaltsame Ereignisse, aber es sind die bizarrsten, irrsten Träume, die ich je hatte; oft gibt es darin nichts, was mir bekannt vorkommt. Häufig wache ich schreiend auf und schlage in meinem Bett um mich. Aber dieses Mal weiß ich, dass es vorübergehen wird.
    Inzwischen untersuchen mich am Krankenhaus gleich mehrere Psychologen. Es ist interessant, wie sie meine Intelligenz analysieren. Ein Arzt bewertet meine Fähigkeiten, indem er sie in ihre Komponenten zerlegt, wie zum Beispiel Erfassen, Behalten, Umsetzen und Übertragen. Ein anderer unterscheidet zwischen mathematischem und logischem Denken, sprachlichen Fähigkeiten und räumlichem Vorstellungsvermögen.
    Diese Fachspezialisten erinnern mich an meine Zeit auf dem College – jeder hat seine Lieblingstheorie, sie alle biegen die Fakten so zurecht, dass es passt. Sie überzeugen mich jetzt sogar noch weniger als damals; noch immer gibt es nichts, was sie mir beibringen könnten. Keines ihrer Schemata taugt dazu, meine Leistungen zu analysieren, denn – es hat keinen Sinn, das zu leugnen – ich bin einfach in allem gleich gut.
    Egal, ob ich eine neue Art mathematischer Gleichungen, die Grammatik einer Fremdsprache oder die Funktionsweise einer Maschine erlerne, immer fügt sich alles zusammen und alle Teilbereiche greifen nahtlos ineinander. Nie muss ich gezielt etwas auswendig lernen und dann mechanisch anwenden. Ich erfasse vielmehr, wie sich ein System als Ganzes verhält. Natürlich nehme ich auch die Details und einzelnen Schritte wahr, aber das geschieht beinahe intuitiv, weil es so wenig Konzentration erfordert.
    Die Sicherheitssysteme von Computern zu knacken ist wirklich eine stumpfsinnige Aufgabe. Ich kann zwar verstehen, dass sich Leute davon angezogen fühlen, die unbedingt ihre Gerissenheit unter Beweis stellen wollen, aber es liegt keinerlei intellektuelle Schönheit darin. Eigentlich ist es nicht anders, als würde man bei einem verschlossenen Haus überall an den
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