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Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)

Titel: Das wahre Wesen der Dinge (German Edition)
Autoren: Ted Chiang
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Türen rütteln, bis man ein schadhaftes Schloss findet – durchaus nützlich, aber nicht besonders interessant.
    In die private Datenbank der Arzneimittelbehörde einzudringen, war einfach. Ich habe an einem der Terminals in den Wänden des Klinikums herumgespielt und das Informationsprogramm für die Besucher ablaufen lassen, in dem Übersichtskarten des Klinikums und ein Mitarbeiterverzeichnis zu finden sind. Von dort aus bin ich auf Betriebssystemebene gegangen und habe ein Phishing-Programm geschrieben, das den Eröffnungsbildschirm vortäuscht, von dem aus man sich einloggt. Danach habe ich das Terminal einfach sich selbst überlassen. Irgendwann ist eine meiner Ärztinnen dorthin gekommen, um eine Patientendatei einzusehen. Das Phishing-Programm hat ihr Passwort abgelehnt und danach den echten Eröffnungsbildschirm wiederhergestellt. Die Ärztin hat erneut versucht sich einzuloggen, dieses Mal mit Erfolg, aber mein Phishing-Programm hatte ihr Passwort abgespeichert.
    Mit dem Benutzerkonto der Ärztin habe ich Zugriff auf die Patientendatenbank der Arzneimittelbehörde. Bei den Medikamententests der Phase eins – gesunde Probanden – hatte das Hormon keinerlei Wirkung. Bei den noch laufenden Tests der Phase zwei sieht es anders aus. Hier gibt es wöchentliche Berichte über zweiundachtzig durchnummerierte Patienten, die alle Hormon K erhalten haben. Die meisten von ihnen hatten einen Schlaganfall oder haben Alzheimer, einige lagen im Koma. Die neuesten Daten bestätigen meine These: Bei den Patienten mit größerem Hirnschaden nimmt auch die Intelligenz stärker zu. In den PET-Scans sieht man einen gesteigerten Hirnstoffwechsel.
    Warum gab es bei den Tierversuchen keine Hinweise auf diesen Effekt? Ich denke, das Konzept der kritischen Masse kann als Analogie dienen. Was die Zahl der Synapsen betrifft, liegen Tiere unterhalb einer kritischen Masse; ihre Gehirne sind kaum zur Abstraktion fähig, und zusätzliche Synapsen ändern daran nichts. Menschen dagegen überschreiten diese kritische Masse. Durch ihre Gehirne sind sie sich ihrer selbst voll bewusst, und – so legen es diese Daten nahe – sie schöpfen alle zusätzlichen Synapsen voll aus.
    Am spannendsten sind die Unterlagen eines reinen Forschungsprojekts, das gerade begonnen hat und an dem einige Patienten freiwillig teilnehmen. Zusätzliche Injektionen steigern ihre Intelligenz noch weiter, aber auch hier hängt das Ausmaß vom ursprünglichen Hirnschaden ab. Die Patienten mit leichten Schlaganfällen haben noch nicht einmal das Niveau von Genies erreicht, die mit größerem Schaden sind weiter gekommen.
    Von den Patienten, die ursprünglich in einem tiefen Koma lagen, bin ich bislang der Einzige, der eine dritte Injektion erhalten hat. Keiner der bisherigen Probanden hat so viele neue Synapsen hinzugewonnen wie ich; es ist völlig offen, welches Niveau meine Intelligenz erreichen wird. Ich fühle mein Herz pochen, während ich darüber nachdenke.
    Die Spielerei mit den Ärzten wird von Woche zu Woche nervtötender. Sie behandeln mich, als ob ich eine Art Inselbegabter wäre, wie einen Patienten mit bestimmten Anzeichen für hohe Intelligenz, der aber trotzdem nur ein Patient ist. Für die Neurologen bin ich lediglich das Rohmaterial für PET-Scans und von Zeit zu Zeit die Quelle für ein Röhrchen Rückenmarksflüssigkeit. Die Psychologen erforschen in ihren Interviews mein Denken, aber sie können sich nicht von dem Vorurteil freimachen, dass diese ganze Sache eigentlich meinen Horizont übersteigt, dass ich ein gewöhnlicher Mensch bin, dem seine neuen Gaben unbegreiflich sind.
    Dabei sind es die Ärzte, die nicht verstehen, was hier vorgeht. Sie sind davon überzeugt, dass die Leistungsfähigkeit in der normalen Welt durch das Medikament nicht gesteigert werden kann, dass meine Fähigkeiten nur gemäß der künstlichen Messlatte der Intelligenztests existieren, und so verschwenden sie damit ihre Zeit. Aber die Messlatte ist nicht nur zu beschränkt, sie ist auch zu kurz: Meine perfekten Ergebnisse verraten ihnen gar nichts, denn so weit außerhalb der Normalverteilung haben sie einfach keine Vergleichsmöglichkeiten.
    Natürlich erfassen die Tests nur einen Bruchteil der eigentlichen Veränderungen. Wenn die Ärzte nur fühlen könnten, was in meinem Kopf vergeht: wie sehr mir nun klar wird, was mir zuvor entgangen ist, und auf welch vielfältige Weise ich diese neuen Informationen einsetzen kann. Meine Intelligenz ist alles andere als ein
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