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Das vierte Skalpell

Das vierte Skalpell

Titel: Das vierte Skalpell
Autoren: Hans Gruhl
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stellen sollte. In der Vorhalle saßen Leute mit
ergebenen Leidensmienen, und gestärkte Schwestern wandelten mit gefalteten
Händen durch die Gänge. Es roch nach Dampfheizung und Desinfektion.
    Ich marschierte einen endlosen Gang
hinunter, bis ein Emailleschild »Röntgenabteilung« meinen Weg stoppte. Ein
scheues Mädchen, das da herumlief, fragte ich nach dem Zimmer des Oberarztes,
und sie brachte mich hin. In einem gepolsterten Holzstuhl ließ ich mich nieder,
und dann war erst mal Pause.
    Es erschien nach zehn Minuten ein
Kollege namens Süßmilch. Man sah ihm an, daß er den nötigen Ernst besaß, was
ich von mir nicht sagen konnte. Er hängte seinen Mantel sorgsam in den Schrank
und zog ebenso sorgsam das weiße Linnen des Mediziners hervor. Er war so der
Typ »Herr Professor, ich weiß was!«
    »Sie wollen bei uns anfangen, Herr
Kollege?« fragte er, als wir uns die Hände geschüttelt und unsere Namen
gemurmelt hatten.
    Ich gab das zu.
    »Wie sind Sie auf München verfallen?«
    »Wegen des Bieres.«
    Er lächelte kein bißchen. Er sah auch
nicht so aus, als ob er welches trinken würde. Kannte nur die Pflicht. So war
das heute.
    »Sind Sie schon lange im Röntgen?«
    »Zwei Jahre.«
    »Sie wollen hier Ihren Facharzt
machen?«
    Auch das bekannte ich.
    »Und dann?«
    Ich beschloß, ihn zu ärgern.
    »Ich werde versuchen, hier Chef zu
werden«, sagte ich feierlich, weil ich wußte, daß er das vorhatte. »Und Sie?«
    Es kostete ihn Mühe, sein Lächeln zu behalten.
    »Oh, ich weiß noch gar nicht — entschuldigen
Sie mich bitte, Herr Kollege!«
    Er knöpfte seinen Mantel zu und
verschwand hastig. Ich faltete die Hände und freute mich. Immer dasselbe. Nur
ja keine Konkurrenz. Wahrscheinlich würde er von nun an noch strebsamer sein.
     
    *
     
    Der Oberarzt kam um halb neun, wie es
seiner Gehaltsgruppe entsprach. Er war klein und sah gemütlich aus. Sein Haar
war kurz und borstig, so wie er es wohl als Stabsarzt der Reserve auch getragen
hatte, und wenn er redete, sah er zur Decke und legte die Fingerspitzen
aneinander.
    Seinen Kneifer nahm er alle vier
Minuten ab und putzte ihn in einer Falte seines Mantels.
    Durch einen Vortrag, den er während der
folgenden Viertelstunde hielt, erfuhr ich alles Nötige. Wir hatten keinen
eigenen Chef, sondern unterstanden dem der Chirurgie. Na schön. Die
Röntgenabteilung müßte ihr Stellung im Hause immer aufs neue behaupten. Auch
gut. Manche Kollegen ständen unserer Arbeit wenig wohlwollend gegenüber.
Bedauerlich. Und so bald wie möglich müßte ich mich überall bekannt machen.
Würde ich. Er schloß noch einige Ausführungen über die Stellung der deutschen
Röntgenologie im allgemeinen an. Das Ausland wäre schon viel weiter.
    Danach schleppte er mich durch das
Institut, und ich schüttelte einem Haufen von Leuten teils in hellen, teils in
verdunkelten Räumen die Hände. Viele Namen wurden mir genannt. Die meisten
verstand ich nicht, und den Rest vergaß ich wieder.
    Als letztes erreichten wir die
Knochenmühle. Das war der Raum, in dem die Aufnahmen der Knochen, Schädel und
Wirbelsäulen gemacht wurden und in dem ich anfangen sollte.
    Am Stativ, neben dem Holztisch, stand
ein Mädchen.
    »Fräulein Jacobs«, sagte Oberarzt Lund.
»Ich darf Sie mit Herrn Dr. Thomsen bekannt machen. Er wird zunächst hier
arbeiten.«
    Die Jacobs sah mich an, und der
Unterkiefer wollte mir auf die Brust fallen.
    Helle, fast grüne Augen, wie ein
bayerischer Bergsee, mit seidigen Wimpern. Schmales Gesicht und feine
Nasenflügel. Locken wie Flaumfedern, mit zwei kleinen Hörnern auf jeder Seite
der Stirn.
    Das Mädchen vom Schreibtisch des toten
Studenten.
    Während der Oberarzt das Alter des
Apparates beklagte und die geizige Verwaltung verwünschte, schielte ich nach
der Figur meiner Mitarbeiterin. Niemand auf der Welt hätte etwas daran
verbessern können. Ihre Beine raubten mir schier den Atem. Wie eine Reklame für
Strümpfe vor dem Hauptfilm. War das Beste, was ich bisher in der Art erblickt
hatte.
    Sie schien tatsächlich jünger zu sein
als der Schalttisch, an dem sie herumdrehte.
    Ein leises Ziehen ging durch meine
Eingeweide und blieb unter dem Zwerchfell sitzen. Das also ist seine Freundin
gewesen, dachte ich. Oder nicht? Ich nahm mir vor, auch das herauszufinden. Für
die Arbeit würde wohl nicht mehr viel Zeit bleiben.
    Der Oberarzt entließ mich, als wir
durch waren, und übergab mich der Oberschwester der Abteilung. Sie suchte einen
Mantel für mich heraus und
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