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Das vierte Opfer - Roman

Das vierte Opfer - Roman

Titel: Das vierte Opfer - Roman
Autoren: H kan Nesser
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Wolke, die anschwoll und sich in ihr ausbreitete und ein immer hoffnungsloseres Dunkel über ihre Gedanken legte.
    Der Tod.
    Plötzlich war das die einzige Realität, die sie besaß.
    Das hier ist das Ende, sagte sie sich, und es war weder besonders traumatisch noch aufregend. Sie würde sterben ... wahrscheinlich durch seine Hand oder ganz von selbst. Zusammengekauert hier auf dem Boden zwischen den Decken liegend, mit diesem schmerzenden Körper und dieser dahinschwindenden Seele, die wohl das empfindlichste war – sie war es sicher, die als erste aufgeben würde, das wußte sie jetzt. Nachdem sie dem Tod die Tür geöffnet hatte, wurde ihr Lebenslicht schwächer und schwächer, vielleicht war es nur noch eine Frage von hundert oder siebzig oder zwanzig Atemzügen, bis alles zusammenbrechen würde. Sie hatte jetzt angefangen zu rechnen, so etwas machte man im Gefängnis, das wußte sie... sie hatte von Gefangenen gelesen, die ihren Verstand nur behalten hatten, weil sie alles immer und ewig zählten, das Problem war nur, daß sie nichts zum Zählen hatte. Keine Ereignisse. Keine Geräusche. Keine Zeit.
    Nur ihren eigenen Atem und ihren Puls.
     
    Jetzt wartete sie auf ihn. Als wäre es ihr Geliebter, sehnte sie sich nach ihm ... ihrem Gefangenenwärter, ihrem Büttel, ihrem Mörder? Wie auch immer. Jede Veränderung, jedes Ereignis, jede denkbare Unterbrechung – nur nicht diesen fortwährenden Umgang mit dem Tod.
    Ihrem höflichen und rücksichtsvollen Gast.

    Die Schale mit dem Essen war halbvoll, aber sie bekam nichts mehr hinunter. Ab und zu befeuchtete sie die Zunge und die Lippen mit Wasser, aber auch Durst konnte sie nicht mehr aufbringen. Sie schleppte sich zum Eimer, konnte aber nichts von sich geben... die Bedürfnisse hatten sie verlassen, eins nach dem anderen, so einfach war das.
    Warum kam er nicht?
    Auch wenn die Zeit nicht mehr existierte, so gab ihr doch irgend etwas das Gefühl, daß er sich verspätet hatte. Sie beschloß, viertausend Pulsschläge lang zu zählen, und wenn er dann immer noch nicht hier war, dann würde sie ...
    ... würde sie noch mal viertausend Pulsschläge zählen. War es möglich, tausend Pulsschläge von anderen tausend Pulsschlägen zu unterscheiden? Ging das? Und wenn es möglich war, wozu sollte es gut sein?
    Und während sie zählte, verkrampfte sich ihre Hand.
    Wuchs die Wolke.
    Erfüllte sie der Tod.
     
    »Ich habe mich verspätet«, sagte er, und nur mit knapper Not konnte sie seine Stimme verstehen.
    »Ja«, flüsterte sie.
    Er saß stumm da, und sie spürte, wie sie dazu überging, seine Atemzüge zu zählen. Rauh in der Dunkelheit wie immer, aber dennoch seine und nicht ihre... etwas, das nicht von ihr selbst ausging.
    »Erzähl«, bat sie.
    Da zündete er sich seine Zigarette an, und plötzlich spürte sie, wie das schwache Glühen wuchs und sich in sie drängte ... plötzlich durchdrang das Licht ihren ganzen Körper, und einen Augenblick später hatte sie das Bewußtsein verloren.
    Sie erwachte in einer knisternden weißen Welt, einem pulsierenden, vibrierenden Schein, der so stark und mächtig war, daß sein Donnern sie zerriß. Schwindelerregende Spiralen wuschen ihren Kopf aus, und sie stürzte sich in sie hinein, wurde
aufgesogen und in diesem infernalisch rotierenden Weiß gehalten, in dieser Flut aus wahnsinnig herabstürzendem Licht ...
    Dann begann es abzuebben. Die Flut wurde gedämpft und zog sich in einem langsam wogenden Rhythmus zurück, Brandungen und Wellen, und sie konnte den Geruch nach Erde wieder erkennen. Nach Erde und Rauch. Sah wieder nur noch Finsternis und einen roten, zitternden Punkt, und ihr war klar, daß etwas passiert war. Sie wußte nicht was, aber sie war irgendwo gewesen, und jetzt war sie zurück. Und die Wolke wuchs nicht mehr.
    Etwas war geschehen.
    »Erzähl«, sagte sie, und jetzt trug ihre Stimme die Worte wieder. »Erzähl von Heinz Eggers.«
     
    »Heinz Eggers«, sagte er und zögerte wie immer anfangs. »Ja, ich will auch von Heinz Eggers erzählen. Ich bin nur so müde, schrecklich müde ... aber natürlich muß ich bis zum Ende durchhalten.«
    Es gelang ihr nicht, darüber nachzudenken, was seine Worte eigentlich bedeuteten.
    Er räusperte sich und begann.
    »Es war in Selstadt ... sie ist dorthin gezogen. Oder wurde dorthin gebracht. Das Sozialamt kümmerte sich um sie und brachte sie nach Trieckberg. Kennst du Trieckberg?«
    »Nein.«
    »Das ist eines dieser Kollektive, die wirklich einige wieder
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