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Das Versprechen der Kurtisane

Das Versprechen der Kurtisane

Titel: Das Versprechen der Kurtisane
Autoren: Cecilia Grant
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vor Kälte hochgezogen, und legte die Hände an die Ellbogen. Er atmete ein, und für die Dauer eines Atemzugs schien es möglich, dass er zusammenkratzen würde, was er an Ehre besaß, auf dem Absatz umkehren und Lydia irgendeine Erklärung geben würde.
    Dann atmete er wieder aus und schüttelte den Kopf. »Ich habe ihr nichts zu sagen.« Er blickte mehrere Schritte von Will entfernt zu Boden.
    Armselig. Erbärmlich. Bemitleidenswert. Gütiger Gott, hatte er wirklich Mitleid mit diesem Mann? Was war aus seiner puren, ermutigenden Verachtung geworden?
    Doch er konnte es nicht ändern. Jemanden so willensschwach um Ehrenhaftigkeit ringen zu sehen – und bestimmt hatte Roanoke eine gewisse Vorstellung von dieser Tugend, sonst würde es ihm ja nichts ausmachen, was sein Bruder von ihm dachte – und mitzuerleben, wie er erkannte, wenn auch nur vage, dass er ihr nicht annähernd gerecht werden konnte, musste das Mitleid jedes gerechten Mannes erregen. Schließlich wusste er, wie es war, die gute Meinung eines Bruders zu verlieren. Er wusste, wie es war, ein schlechtes Gewissen zu unterdrücken. Und verdankte er nicht die hellste Freude in seinem Leben den Fehlern, Übertretungen und vorsätzlichen Täuschungen, die die Mätresse ebendieses Mannes in sein Bett gebracht hatten?
    Eine Bewegung bei der Kutsche erregte seine Aufmerksamkeit. Sie war ausgestiegen. Vermutlich hatte sie gemerkt, dass beide Männer mehrmals in ihre Richtung geblickt hatten, und nun stand sie direkt an den Rädern, hielt ihren im Wind flatternden Mantel zu und wartete, ob man sie rufen würde. Ihre Augen bannten ihn so fest wie an jenem ersten Abend in der Bibliothek, doch diesmal war ihr Blick alles andere als unbeteiligt. All ihrer Stärke und Willenskraft zum Trotz sah er darin eine glühende Hoffnung. Selbst jetzt noch erlaubte sie sich, zu glauben, dass er und Roanoke zu irgendeiner Einigung gelangen könnten, die das Duell abwenden würde.
    Wieder verspürte er dieses Gefühl der Zersplitterung in der Brust. Das allein hätte ihn vielleicht nicht umgestimmt, selbst zusammen mit dem sonderbaren Sonnenstrahl des Mitleids vielleicht nicht. Doch sein rechter Daumen entschloss sich just in diesem Augenblick, ihn wieder Talbots versiegenden Puls spüren zu lassen, und das war der letzte Tropfen, der zum Zaubertrank noch fehlte, oder das Prisma, durch das ein Sonnenstrahl in etwas glänzendes Neues verwandelt wurde.
    Plötzlich gab es nur noch Klarheit, einen Entschluss und dessen Ausführung. »Hören Sie, Roanoke.« Er hatte nicht mehr viel Zeit. Cathcart und Roanokes Bruder waren mit dem Arzt und den Pistolen fertig und wandten sich ihm zu. »Ich werde danebenschießen.«
    Kieferknochen riss den Kopf hoch, seine Nasenlöcher weiteten sich, und Unglaube stand auf seiner Stirn geschrieben. Es war ja auch wirklich eine schimpfliche Tat. Eine Entschuldigung war der ehrenvolle Weg aus einem Duell.
    Zum Teufel. Nach allem, was er durchgemacht hatte, fand er, er hatte es verdient, selbst entscheiden zu dürfen, was ehrenvoll war und was nicht. »Offen gestanden ist mir heute Morgen nicht nach Blutvergießen. Wenn ich mir meiner Treffsicherheit sicher sein könnte, würde ich Ihnen ins Bein schießen. Aber ich kenne die Pistolen nicht.« Schnell. Da kamen sie schon. »Vielleicht haben sie gerade genug Drall, um die Kugel in Ihren Eingeweiden landen zu lassen. Alles in allem ist es wohl sicherer, wegzuzielen. Oh – ist es so weit?« Er fuhr herum, um sich an die Sekundanten zu wenden, bevor Roanoke dazu kam, zu antworten. Er brauchte keine Antwort. Er hatte seine Entscheidung getroffen.
    König Kieferknochen verdiente nicht mehr Gnade als vor zehn Minuten. Daran hatte sich nichts geändert. Die Veränderung hatte sich in seiner Sichtweise ereignet, so als hätte er einen Gipfel erklommen, sein Leben von oben betrachtet und das Duell aus einer anderen Perspektive gesehen. Er hatte das Privileg und die Macht, Gnade zu gewähren, egal ob sie verdient war. Und wenn er das tat, wenn er von seinem Recht, diesen unwürdigen Schurken ins Jenseits zu befördern, keinen Gebrauch machte, dann würde seine Geschichte einen irrationalen Akt der Barmherzigkeit beinhalten, der die Erinnerung an seine hilflose Beihilfe zum Tod eines anderen Mannes ein ganz kleines bisschen ausgleichen würde.
    Außerdem würde er dem blonden Roanoke, der jetzt vor ihm stand, die Pistolen aushändigte und alle an die vereinbarten Regeln erinnerte, damit einen Gefallen tun. Jeder einen
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