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Das Versprechen der Kurtisane

Das Versprechen der Kurtisane

Titel: Das Versprechen der Kurtisane
Autoren: Cecilia Grant
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starrte aus dem Fenster. An diesem vielleicht letzten Morgen seines Lebens war ihm nicht danach, sich zu rechtfertigen.
    Wenn er sich heimlich hätte davonstehlen können, ohne sie zu wecken, wäre der Platz ihm gegenüber jetzt leer. Doch natürlich war sie ausgerechnet heute endlich einmal vor ihm aufgestanden, und er war noch immer nicht gewillt, mit ihr zu streiten. Es war gut so. Wenn es ihm bestimmt war, heute zu sterben, wäre sie wenigstens zugegen, um das Letzte zu sein, was er sah.
    Die Fahrt über herrschte Stille, beziehungsweise jenes Schweigen, das alle zufälligen Geräusche umso stärker hervortreten lässt. Das Quietschen der Federung, das Rumpeln der Räder auf dem Kopfsteinpflaster, das Klappern der Pferdehufe und ein gelegentliches metallisches Scheppern aus der Tasche des Chirurgen.
    Er kannte es aus den Stunden vor einer Schlacht: das beinahe körperliche Verlangen danach, jedes noch so unbedeutende Geräusch und jeden Eindruck aufzunehmen. Der schale Geschmack des Morgens in seinem Mund, weil er zu früh aufgestanden war, um im Frühstücksraum unten auf Kaffee hoffen zu dürfen. Die Textur der Innenseite seiner Handschuhe, normalerweise so unaufdringlich wie seine eigene Haut. Die Art und Weise, wie das Licht einer Straßenlaterne von einer zur anderen Seite wanderte, während die Kutsche vorbeifuhr, Lydias ernstes Gesicht überflutete und in ihren Augen funkelte, bevor es sie wieder der Dunkelheit überließ. Heute, ausgerechnet heute, konnte er ihr ihre Gefühle ansehen. Doch schließlich war er ja auch für das, was in ihrem Gesicht geschrieben stand, verantwortlich.
    Er griff nach ihrer Hand – zum Teufel mit den beiden Zuschauern – und hielt sie, bis Räder und Hufschlag sich schließlich verlangsamten und zum Stillstand kamen. »Ich werde mich nicht einmischen«, sagte sie, als hätte er des Versprechens bedurft. Er stand auf, lehnte sich vor, um sie auf die Stirn zu küssen, und kletterte aus der Kutsche. Draußen wand er sich seinen Schal enger um den Hals. Verfluchtes Jahr, um zu sterben, mit diesem endlosen Winter.
    Inzwischen graute der Morgen, und er konnte die Örtlichkeiten ausmachen. Freies Feld, ein paar verstreute Bäume, und ein Hang, von dem aus man einen Blick auf die Dächer Londons haben würde, falls der Nebel sich jemals lichten sollte.
    »Sie sind schon da.« An seiner Seite nickte der Viscount in Richtung eines Landauers, der in etwa zehn Metern Entfernung stand. »Das ist sein Sekundant, der da an der Kutsche steht. Irgendein Verwandter.«
    Darauf hätte er auch getippt, als er nahe genug herangekommen war, um die Züge des Mannes ausmachen zu können. Er hatte helleres Haar, doch seine Augen waren ähnlich, und sein Kiefer war ebenso kantig wie der Roanokes. Er nickte, als Cathcart sie einander vorstellte, und schwieg. Seine Miene ähnelte der, die Lydia schon den ganzen Morgen aufgesetzt hatte.
    Irgendetwas zersplitterte irgendwo in Wills Brust. Das war der Unterschied zwischen einem Duell und einer Schlacht oder einem Kampf gegen Straßenräuber: Man wusste nicht nur auf einer abstrakten Ebene, dass der Feind vermutlich Mutter oder Schwester hatte, die ihn betrauern würden, man musste dem Angehörigen ins Gesicht sehen. Man spürte, mit welcher Mühe dieser sich unbeteiligt gab, während er sich insgeheim für Trauer wappnete.
    Ungebeten und unwillkommen drängte sich ihm die Vision eines Sommertags auf, den er mit seinen Brüdern draußen verbracht hatte. Es war nichts Bedeutendes geschehen – sie hatten den Nachmittag damit verbracht, mit Steinen nach Zielen zu werfen –, doch er schätzte die Erinnerung, wie er Hunderte solcher Erinnerungen an gemeinsame Stunden mit Nick und Andrew schätzte. Zweifellos hatte dieser Mann auch goldgefärbte Erinnerungen an Kindertage, in denen Kieferknochen der bewunderte Ältere gewesen war.
    Dann hätte Kieferknochen diese Bewunderung eben zu schätzen wissen und sich ihrer würdig erweisen sollen. Will empfahl sich; Cathcart und Roanokes Sekundant hatten noch Details über die Pistolen und den Chirurgen zu besprechen, und er hatte seinen Gegner selbst erspäht, der mit der Schulter an einem Baum lehnte, den anderen den Rücken zugewandt. Hut und Mantel hatte er bereits abgelegt, vielleicht um zu zeigen, wie wenig ihm die Kälte ausmachte. Unklug. Seine Reflexe würden dafür bezahlen.
    Als Will sich ihm näherte, blickte er auf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken, jedoch nicht schnell genug, um zu verbergen,
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