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Falsche Opfer: Kriminalroman

Falsche Opfer: Kriminalroman

Titel: Falsche Opfer: Kriminalroman
Autoren: Arne Dahl
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1

    I ch hab nichts gesehen.«
    Paul Hjelm seufzte tief und von Herzen. »Du hast nichts gesehen?«
    Er versuchte, den Blick des jungen Mannes zu fangen, doch der hatte die Augen niedergeschlagen und sah verbiestert zu Boden.
    Verbiestert? Wann hatte er zuletzt das Wort verbiestert benutzt? Hatte er das Wort überhaupt je in seinem Leben benutzt?
    Er fühlte sich alt.
    »Also noch mal von vorn«, sagte er beherrscht. »Obwohl hinter dir eine wilde Schlägerei ausbrach, hast du absolut nichts gesehen. Ist das richtig?«
    Schweigen.
    Hjelm seufzte erneut. Er hob die Knöchel von der Tischplatte, streckte den Rücken und warf einen Blick zu der Kollegin hinüber, die an der tristen Betonwand lehnte.
    In dem Moment, da ihre Blicke sich trafen, wurde ihm die Zwiespältigkeit dieses Augenblicks bewusst. Einerseits die Versetzung zur Abteilung für Gewaltverbrechen im Polizeibezirk City mit dieser endlosen Reihe trostloser, alltäglicher Gewalt. Anderseits die Rückkehr seiner Lieblingskollegin Kerstin Holm nach Stockholm.
    Und das erste, womit sich das eingespielte Duo nach seiner Wiedervereinigung abgeben musste, war – eine Kneipenschlägerei.
    Paul Hjelm seufzte ein weiteres Mal und wandte sich wieder dem verstockten Zeugen zu. »Und du hast nicht einen einzigen kleinen Blick über die Schulter geworfen?«
    Da lächelte der junge Mann schwach, ein etwas blasses, in sich gekehrtes Lächeln. »Nicht einen einzigen«, sagte er.
    »Und warum nicht?«
    Zum erstenmal begegneten die Augen des Zeugen seinem Blick. Klarblau. Eine etwas unerwartete Schärfe, als sei er im Begriff, etwas ganz anderes zu sagen als das, was er sagte: »Weil ich gelesen habe.«
    Paul Hjelm starrte ihn an. »Hammarby hat gerade ein Heimspiel gegen Kalmar gehabt, sie spielen unentschieden, 2:2, und bleiben auf dem letzten Tabellenplatz, und du sitzt in der Stammkneipe der Byenfans und liest? Kvarnen ist brechend voll und laut, und im Gedränge frustrierter Hammarbyer sitzt der zwanzigjährige Per Karlsson allein mit einem Buch? Ein äußerst seltsamer Ort zum Lesen, das muss ich sagen.«
    Per Karlsson lächelte wieder, das gleiche milde, in sich gekehrte Lächeln. »Es war ruhig, als ich kam«, sagte er.
    Hjelm zog den Stuhl vor und ließ sich mit einem Krachen darauf nieder. »Jetzt bin ich aber richtig neugierig«, sagte er. »Was war das denn für ein Buch, das dich so gefesselt hat, dass du es fertiggebracht hast, nicht nur Schreie und Gebrüll und Gedränge zu ignorieren, sondern auch eine Schlägerei, die damit endete, dass ein Mensch einen Bierkrug auf den Schädel bekam und starb?«
    »Starb?«
    »Ja, er starb. Er verblutete am Tatort. Mir nichts dir nichts. Er verlor zwei Liter Blut in zwanzig Sekunden. Es schoss nur so aus ihm heraus. Alle Adern öffneten sich sperrangelweit. Er hieß Anders Lundström, kam aus Kalmar und hatte sich aus unerfindlichen Gründen ins Kvarnen verirrt, was wohl für einen Fan der gegnerischen Mannschaft ungefähr gleichbedeutend damit ist, in die Hölle zu geraten. Und tatsächlich töten ihn die Byenfans mit einem Bierkrug. Und von dem allen bekommst du nichts mit, weil du welches Buch gelesen hast? Das interessiert mich wirklich.«
    Per Karlsson sah angeschlagen aus. Er murmelte: »Keins, das Sie kennen ...«
    »Try me«, sagte Paul Hjelm mit New Yorker Akzent.
    Kerstin Holm bewegte sich zum ersten Mal, seit Per Karlsson das Vernehmungszimmer betreten hatte. Lautlos glitt sie zum Tisch und ließ sich neben Hjelm nieder. »Der Kollege hier weiß mehr über Literatur, als du glaubst«, sagte sie. »Als wir uns zuletzt gesehen haben, das war vor fast einem Jahr, da hast du, war es Kafka, gelesen?«
    »K«, sagte Paul Hjelm mehrdeutig.
    Kerstin Holm ließ ein kurzes, ein wenig bitteres Lachen hören.
    »K«, bekräftigte sie mit New Yorker Akzent. »So try him.«
    Der junge Mann sah verwirrt aus. Die schwarze Kleidung mitten im Hochsommer. Das ungepflegte, zottelige blonde Haar. Ein Intellektueller in spe? Nein, eher nicht. Der flackernde, gleichsam verwundete Blick. Das introvertierte Lächeln. Absolut kein Student von der Uni. Vielleicht tatsächlich ein junger Mann, der nur las, um sich zu bilden.
    Eine Rarität.
    »Ovid«, sagte die Rarität. »Ovids Metamorphosen.«
    Paul Hjelm lachte laut. Er wollte das gar nicht. Per Karlsson zu verhöhnen war das letzte, was er im Sinn hatte. Und doch lief es darauf hinaus. Das passierte ihm immer öfter.
    Die Insignien der Bitterkeit.
    Verbiestert.
    Hjelm verspürte einen
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