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Falsche Opfer: Kriminalroman

Falsche Opfer: Kriminalroman

Titel: Falsche Opfer: Kriminalroman
Autoren: Arne Dahl
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gesehen hatte, und an Alpträume, die sich ganz allmählich verflüchtigen würden. Der große Bauch leuchtete immer ungestörter weiter. Sie dachte an Ludvig Johnsson, an den Tod von Vätern und daran, wie die eigenen Schritte einen Weg bahnten, dem ein anderer niemals ganz folgen konnte. Sie dachte an die virtuelle Welt, an die leichten Schritte im Cyberspace gegenüber den schweren der Wirklichkeit. Sie dachte an die Verbindungen zwischen Eros und Thanatos, zwischen Liebe und Tod, sie dachte an die seltsame Gerechtigkeit des Schicksals und an Rajko Nedics Zunge. Und an Jorge Chavez dachte sie, daran, wie unberechenbar die Liebe ist, an all die Voraussetzungen, die sie möglich machen, und sie sah ihm in die Augen, und zum erstenmal, fand sie, lächelte sie vollkommen vorbehaltlos.
    Flitterwochen in Chile, danach zurück zu ihrem neuen Job. In der A-Gruppe.
    Das klang gar nicht so schlecht.
    Jorge Chavez dachte nicht soviel. Er war vor allem besorgt, seine bummelige Verwandtschaft würde in der kühlen protestantischen Kirche nicht auf dem Teppich bleiben. Ihm kam es so vor, als wären die Chilenen in der Überzahl. Es brodelte gleichsam unberechenbar in der schwarzköpfigen Masse. Er überraschte sich damit, dass er versuchte, die Szene mit Niklas Lindbergs Augen zu sehen. Warum waren sie so bedrohlich? Was bedrohten sie? Vermutlich nichts anderes als das verzerrte Selbstbild. Der Schwede, der sich im Spiegel sieht und etwas ganz anderes erblickt als alle anderen. Wo alle anderen einen Menschen sehen, sah Niklas Lindberg einen Übermenschen.
    Wie ging diese Verwandlung vor sich? War es so wie bei dem kleinen Streber Agne, der zu ›Kulan‹ wurde, ›der härtesten Kugel, die euch treffen kann‹? Oder war das zu einfach?
    Dann fiel ihm ein, dass dies kaum passende Gedanken waren, während er den Mittelgang der Kirche hinabwandelte, um seine Liebste zu ehelichen. Ein paar Junggesellengewohnheiten mussten noch ausgemerzt werden, auf beiden Seiten der Mauerruinen. Das einstmals verminte Gelände musste bebaut werden. Wenngleich behutsam.
    Er schaltete um. Er war froh, ganz einfach, unbändig froh. Und das musste reichen. Für jetzt.
    Sein Blick fiel auf Paul Hjelm, der fast unsichtbar in einer der hintersten Reihen saß, allein. Paul lächelte ihm zu, ein wenig glücklich, als sei Glück tatsächlich teilbar. Jorge lächelte zurück und glaubte für den Moment, dass es möglich war.
    Hjelm hatte sich nach hinten gesetzt, weil er allein war. Er war der einzige, der allein war. Sogar Mörner dort vorn hatte die Gattin bei sich. Oder zumindest eine Konkubine. Aber Cilla und die Kinder waren auf Dalarö geblieben. Er hatte eine Woche dazu gebraucht, ihnen wieder nahe zukommen, war zurückgekehrt wie der verlorene Sohn und wurde langsam, ganz langsam wieder ein Teil der Familie. Sie durften bleiben, wenn sie wollten. Und warum nicht? Warum eine große Affäre daraus machen?
    Nach der Sicklaschlacht und allem, was sie mit sich gebracht hatte, war es schwierig, aus irgend etwas noch eine große Affäre zu machen. Entweder war es Reife – oder es war Erschöpfung. Die Grenze zwischen beidem ist oft haarfein.
    Sicher wusste er nur eins, dass er ein Mann war, der getötet hatte.
    Er dachte an Berggipfel. Mehrere verschiedene Berggipfel. Den der A-Gruppe zum Beispiel, der inzwischen ernstlich zur Dauereinrichtung gewordenen A-Gruppe. Sie hatten ihren Berg bestiegen, astrein, doch teils war die offizielle Wahrheit frisiert, teils fehlten ein paar Gestalten – und mit ihnen das, worum sich alles gedreht hatte. Das Geld.
    Immer das Geld.
    Und damit erreichte er die nächste Bergeshöhe. Die von Philemon und Baucis:
    Wir sind Götter und tragen den unrechtschaffenen
    Nachbarn,
    sagten sie, würdigen Lohn. Doch euch vergönnen wir,
    teillos
    solcher Strafe zu sein. Verlasst nur euere Wohnung;
    Folget unserem Schritt, und hinauf zu den Höhen
    des Berges
    Gehet zugleich!
    Er lächelte eine Sekunde, und ein Shakespeare-Zitat kam ihm in den Sinn. Ein Sommernachtstraum: ›Komm, schöne Fürstin, auf des Berges Höh: / dort lass uns in melodischer Verwirrung / das Bellen hören samt dem Widerhall.‹ Er bestieg den nächsten Gipfel. Es war der eines Eisbergs. Seine Gedanken gingen zu Conny Nilsson. Dem Kvarnenmörder. Die Spitze eines Eisbergs. Und er hatte jetzt ziemlich viel von diesem Eisberg gesehen.
    Wuchs er noch, oder stand er im Begriff zu schmelzen?
    Von der nazistischen Gang war nur noch ein kleinlauter Agne ›Kulan‹
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