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Die Augen der Medusa

Die Augen der Medusa

Titel: Die Augen der Medusa
Autoren: Bernhard Jaumann
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Lunedì, 14 gennaio
    Der rote Balken wanderte durch einen stahlblauen Himmel, der wie gefroren aussah. Nur über die Hügel im Osten zog sich ein dünner Wolkenschleier, durch den die Wintersonne milchig schimmerte. Die Kuppen waren dünn mit Raureif überzuckert, doch über die Nordhänge reichte eine fast geschlossene Schneedecke bis ins Tal. Auf ihr stumpfes Weiß schien der Lehm der darunter begrabenen Äcker abgefärbt zu haben. Das Waldstück, das sich an die Felder anschloss, wirkte wie aus Glas. Als ob man nur fest darauf starren müsste, um die kahlen Bäume klirrend zerspringen zu lassen. Vom Waldrand führte eine Spur quer über die weiße Fläche in Richtung des kleinen Orts Montesecco. Der rote Balken folgte ihr. Soweit man das auf die Entfernung beurteilen konnte, war der Rand der Fußstapfen eingefallen, die Spur selbst schon einige Tage alt.
    Der Frost biss in die Lippen. Die Atemluft kondensierte zu einer grauen Wolke, wenn man sie ausstieß. Die Finger in den dünnen Lederhandschuhen fühlten sich klamm an.
    Immerhin waren die Lichtverhältnisse nahezu optimal. Die Silhouette Monteseccos auf dem Hügelrücken gegenüber war klar auszumachen. Dünne Rauchfahnen standen über einem Gewirr von Natursteinmauern und verwaschenen Ziegelflächen. Auf den Dächern lagen Reste schmutzigen Schnees. Das Dorf wirkte grau und trostlos, auch wenn sich seine Häuser aneinanderdrückten, als wollten sie sich gegenseitig wärmen. Etwas rechts vom höchsten Punkt ragte der Kirchturm Monteseccos ein paar Meter aus dem Schutz der verwinkelten Dächer hervor. In ihm öffneten sich mannshohe fensterlose Luken, durch die man gewiss eine ausgezeichnete Sicht in alle Richtungen hatte.Doch ebenso sicher war es dort kalt und zugig. Nichts rührte sich, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass gerade jetzt jemand von dort oben Beobachtungen anstellte.
    Am Dorfeingang stachen ein paar Zypressen schwarz hervor, aber die meisten Bäume unterhalb der Häuser hatten ihre Blätter längst verloren. Durch die kahlen Äste glänzte der Asphalt der Ortszufahrt. Der rote Balken glitt auf ihr durch zwei enge Kurven den Hang hinab, bis er die Straße nach Pergola erreichte. Diese zog sich in sanftem, nur leicht abfallendem Schwung durch die gefrorenen Äcker, ging bei dem Rustico an der Abzweigung nach Madonna del Piano in eine lange Gerade über, um dann wieder anzusteigen und zwischen bewaldeten Hügeln zu verschwinden. Fünfzig Meter vor dem Dorf stand am Straßenrand ein hölzernes Patriarchenkreuz. Die Längsachse verschwand hinter dem roten Balken, nur die zweifachen Querarme ragten seitlich hervor. Die oberen waren ein wenig kürzer, ihre Kanten gestochen scharf. Man glaubte fast, an ihnen entlang streichen zu können, doch sie waren zweihundert Meter Luftlinie entfernt. Plus/minus fünfundzwanzig Meter. Genauer konnte man die Entfernung nicht justieren.
    Als der schwarze Wagen zwischen den kahlen Bäumen auftauchte, war von seinem Motor nichts zu hören. Nicht einmal das leise Surren, das man von einer kraftvollen Sechs-Zylinder-Maschine erwartete. Langsam glitt die Limousine die Straße entlang. Wahrscheinlich war die Fahrbahn in den Serpentinen des Waldstücks glatt gewesen. Und der Fahrer blieb nun vorsichtig, weil er die Strecke nicht kannte. Noch vierzig Meter bis zum Kreuz mit den beiden Querbalken.
    Die Limousine kam aus der letzten Kurve, drehte auf 12 Uhr ein. Man konnte nun das Nummernschild lesen. Alles war in Ordnung. In den durchbrechenden Sonnenstrahlen glänzte der Kühler silbern. Aluminium. Es hätte auch zehn Millimeter dicker Stahl sein können. Das hättenichts ausgemacht. Nicht auf lächerliche zweihundert Meter Entfernung. Der rote Balken lief knapp vor dem Kühler her. Noch zwanzig Meter.
    Im Graben längs der Straße lagen klumpige Schneehaufen mit einer schwärzlichen Kruste. Das Patriarchenkreuz stand ein klein wenig schräg. Die Limousine schien nun zu beschleunigen. Noch ein paar Wagenlängen.
    Der rote Balken in der Optik des OEG-Spezialvisiers zitterte nicht. Er lag senkrecht und genau mittig über Kühlergrill, Motorhaube und Frontscheibe. Die Schulterstütze war kaum zu spüren. Der schwarze Wagen würde nun gleich das Kreuz passieren.
    Nein, das würde er nicht. Nicht immer lief alles so, wie es vorgezeichnet schien. Das galt für fahrende Autos wie für das Leben. Der rote Balken lag genau im Ziel. Die Entfernung war justiert. Der Drall würde automatisch korrigiert werden. Den Abzug des MGL-MK
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