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Falsche Opfer: Kriminalroman

Falsche Opfer: Kriminalroman

Titel: Falsche Opfer: Kriminalroman
Autoren: Arne Dahl
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Kullberg übrig. Wie gefährlich waren Leute seines Schlages? Wie viele von ihnen gab es? Waren sie eine reale Bedrohung der Demokratie? Schickten sie sich an – unmerklicher als die Sicklaschlacht –, die ganze Gesellschaft zu unterwandern? Gewannen ihre Wertvorstellungen allmählich an Boden? Oder waren sie nur die gegenwärtige Version des inhumanen unterirdischen Stroms, der immer alle Gesellschaften durchzog?
    Paul wusste nur, dass er es nicht wusste.
    Man konnte die Argumentation auch umkehren. Wenn Conny Nilsson nicht am dreiundzwanzigsten Juni um einundzwanzig Uhr zweiundvierzig im Restaurant Kvarnen Anders Lundströms Schädel zerschmettert hätte, wäre das komplizierte Netzwerk der Sicklaschlacht nie entwirrt worden. Seine Tat war wie die Zerschlagung des Gordischen Knotens.
    Er versuchte, in dieser Tatsache einen positiven Sinn zu entdecken. Es wollte ihm nicht gelingen. Aber er würde weitersuchen.
    Das Brautpaar war am Altar angekommen. Der Trauungsakt begann.
    Doch Paul Hjelm hörte nicht besonders viel. Er war woanders. Er versuchte, den Sinn zu verstehen. Er fragte sich, ob es einen gab. Er befand sich ja nicht in einem literarischen Werk.
    Aber für einen kurzen Augenblick war ihm, als könnte er das unsichtbare Muster erkennen.
    Vielleicht lag der Sinn in der Metamorphose. Der ständigen, notwendigen, umständlichen, unumgänglichen, schwer zu meisternden Verwandlung. Die Nase über der Wasseroberfläche zu halten, unabhängig vom Wetter.
    Der Trauungsakt ging zu Ende. Das Brautpaar küsste sich. Der Polizeichor – angeführt von einem dröhnenden Bassstimmte einen Jubelgesang an. Und Paul Hjelm dachte: neues Jahrtausend. Er dachte: Schweden. Er dachte: Menschen.
    Und die ganze Zeit – ununterbrochen – durchströmte ihn eine Stimme, die mit ihrer letzten Kraft sagte: ›Paul, ich liebe dich.‹
    Und sein Blick suchte Kerstin, suchte den Chorsängerkollegen Gunnar, suchte das Brautpaar Sara und Jorge, Jan-Olov, Arto und Viggo.
    Der Gesang fand Widerhall an den Kirchenwänden und mischte sich mit seinem eigenen Echo und wurde zu melodischer Verwirrung. Und plötzlich, einen kurzen, kurzen Augenblick nur, meinte er, Rilkes Duineser Elegien verstanden zu haben.
    ›Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir grade noch ertragen.‹
    Und Paul Hjelm sang.
    Er wusste nicht richtig, was er sang, doch auch er sang.
    Endlich.

49

    E r hat seine Sprache verloren. Er sitzt und wartet, zusammengekauert. Er ist ein kleines, sprachloses Bündel. Die Schritte nähern sich, und er wartet wortlos. Er liegt auf dem Fußboden und zieht das Laken ans Gesicht, als könnte es ihn schützen. Er liegt auf dem Fußboden, weil er im Bett nicht mehr schlafen kann. Das Bett gibt ihm einen maßlosen Schrecken ein. Er hört, wie die Tür in dieser unverkennbaren Art und Weise aufgleitet, die lautlos sein soll, es aber nicht ist, im Gegenteil, sie hallt in ihm wider, und er weiß, dass sie für den Rest seines Lebens in ihm widerhallen wird. Wie lang es jetzt dauert. Das Laken wird fortgerissen, der Reißverschluss einer Hose wird geöffnet, ein rohes Lachen ist zu hören, und er weint ein Weinen, das jenseits jedes Weinens liegt, und er kann kein Wort sagen, weil er dafür keine Wörter hat.
    Seine Zunge ist fort.
    Er ist in den schattigen Tiefen des Tartaros.

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