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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee
Autoren: Ursula K. Leguin
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magischen Künste fortfahren, insbesondere dem Namengeben, Beschwören und Formgeben, und schließlich Magier werden.
    Ein Zauberer, wie Halkel ihn definierte, war ein Mann, der seinen Stab von einem Lehrer empfing, welcher, selbst ein Zauberer, die Verantwortung übernommen hatte, ihn auszubilden. Gewöhnlich war es der Erzmagier, der einem Schüler den Stab gab und ihn zum Zauberer erklärte. Diese Art des Unterrichts und der Nachfolge war auch anderswo als auf Rok üblich - namentlich auf Paln -, aber die Meister von Rok beäugten jeden Schüler, der nicht auf Rok ausgebildet war, mit Misstrauen.
    Magier blieb ein im Wesentlichen Undefinierter Begriff - ein Zauberer mit großer Macht.
    Der Name und das Amt des Erzmagiers war eine Erfindung Halkels; der Erzmagier von Rok war der zehnte der Meister, er gehörte nie zum Kreis der Neun. Als prägende ethische und spirituelle Kraft übte der Erzmagier natürlich auch beträchtliche politische Macht aus. Alles in allem wurde diese Macht zu guten Zwecken verwendet. Um die stark zentralisierende, bestimmende und friedfertige Rolle Roks in der Gesellschaft des Archipels zu behaupten, sandten die Erzmagier ausgebildete Zauberer und Magier aus, die den ethischen Einsatz von Magie wahrten und die Gemeinschaft vor Dürre, Seuchen, Übergriffen, Drachen und dem verantwortungslosen Gebrauch ihrer Kunst schützten.
    Seit der Krönung von König Lebannen und der Wiedereinsetzung des Hohen Gerichts und des Rats in Havnor-Großhafen war Rok ohne Erzmagier. Es sieht so aus, als sei dieses Amt, dem ursprünglich weder die Leitung der Schule noch die Regierung des Archipels oblag, nicht länger von Nutzen oder sinnvoll gewesen. Damit könnte Ged, den man getrost als den Größten der Erzmagier bezeichnen darf, deren Letzter gewesen sein.
     
    Keuschheit und Zauberei
     
    Die Schule von Rok wurde von Männern und Frauen gemeinsam gegründet, und in den ersten Jahrzehnten lehrten und lernten hier auch Männer und Frauen gemeinsam; aber nachdem in den Finsteren Zeiten Frauen, Hexerei und die Urmächte allesamt als unrein betrachtet wurden, war bald die Ansicht weit verbreitet, dass Männer sich auf die Ausübung der >Hohen Magie< durch peinliche Vermeidung allen >Grundhandwerks<, aller >Erdmagie< und vor allem der Frauen selbst vorbereiten müssen. Ein Mann, der nicht bereit war, sich der eisernen Kontrolle eines Keuschheitszaubers zu unterwerfen, vermochte nie und nimmer die Hohe Kunst auszuüben. Er konnte nicht mehr werden als ein gewöhnlicher Zauberer. Ausgebildete männliche Magier gingen Frauen daher aus dem Weg, und sie weigerten sich, sie zu unterrichten oder von ihnen zu lernen. Hexen, die fast alle Magie praktizierten, ohne ihre Sexualität zu unterdrücken, wurden von den zölibatären Männern als Verführerinnen hingestellt und als unrein, ruchlos und von Grund auf böse beschrieben.
    Als der erste Erzmagier von Rok, Halkel aus Weg, Frauen von der Schule ausschloss, erhoben von den neun Meistern nur der Formgeber und der Türhüter Protest; sie wurden überstimmt. Über drei Jahrhunderte lang lehrte oder lernte keine Frau an der Schule von Rok. In diesen Jahrhunderten war die Magie eine hoch geachtete Kunst, die Ansehen und Macht verlieh, während Hexerei als unreiner und dummer Aberglauben abgetan wurde, ausgeübt von Frauen und bezahlt von Bauern.
    Die Überzeugung, dass ein Magier zölibatär leben müsse, wurde durch so viele Jahrhunderte hindurch als fraglos wahr angesehen, dass sie vermutlich zu einer psychologischen Tatsache wurde. Abgesehen von diesem Vorurteil sieht es allerdings so aus, als sei die Verbindung zwischen Magie und Sexualität von dem einzelnen Menschen und den jeweiligen Umständen abhängig. Morred, ohne Zweifel ein sehr großer Magier, war zugleich Ehemann und Vater.
    Ein halbes Jahrtausend oder länger verpflichteten sich Männer mit dem Ehrgeiz, große Magie zu wirken, zur Keuschheit, verstärkt durch selbst auferlegte Zauber. In der Schule von Rok lebten die Schüler vom Zeitpunkt ihres Eintritts ins Großhaus an unter dem Keuschheitszauber, und wenn sie Magier wurden, ihr restliches Leben lang.
    Unter den Zauberern leben wenige strikt zölibatär und viele von ihnen heiraten und gründen eine Familie.
    Magie ausübende Frauen können Zeiten sexueller Enthaltsamkeit wie auch den Fastens zur Läuterung und Erhöhung ihrer Macht einlegen. Doch die meisten Hexen pflegen ein aktives Sexualleben; sie sind darin freier als die meisten Dorffrauen und
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