Das Vermaechtnis des Will Wolfkin
das jeweilige tödliche Potenzial.
Allmählich wurden die Dornensträucher spärlicher, und wir kamen auf eine größere Straße, die von Reifenabrücken schwerer Fahrzeuge durchfurcht war. Am nahen Horizont sah ich Rauch aufsteigen und nach einem weiteren Kilometer kamen wir zu den Resten eines Hauses, von dem nur noch eine von der Sonne verblichene weiße Mauer stand. Auf der Mauer war etwas geschrieben.
Befreit Kapoeta … Sudanesische Befreiungsarmee. Darunter die Worte: Was durch Korruption entstanden ist, wird schnell untergehen.
Emma blieb stehen und beschirmte ihre Augen.
»Hier fängt mein Dorf an.« Sie ging zu dem Graben am Straßenrand und hob zwei lange Stöcke auf, die offenbar für Besucher dort deponiert worden waren. Sie reichte mir einen.
»Wenn ein streunender Hund kommt, gib ihm eins auf die Nase.«
Wir gingen in den Ort hinein. Es war die Zeit der größten Hitze, winzige Tornados tanzten über den Sand. Ein paar kleine Hunde umschnüffelten uns, aber wahrscheinlich hatten die schlaueren unter ihnen längst gelernt, dass man Fremden mit Stock lieber nicht zu nahe kommen sollte. Nach einer Weile erreichten wir eine Reihe Elendshütten, die aussahen wie faulende Zähne in einer entzündeten Mundhöhle. Die Wände einer jeden Hütte und Baracke war von Kugeleinschlägen durchsiebt, die Erde ringsum voller Löcher.
»Bleib immer auf dem Weg«, sagte Emma, »hier sind überall Minen.«
Ich dachte daran, was mir Emmas Blume über ihren kleinen Bruder erzählt hatte. Als ich ihr einen kurzen Blick von der Seite zuwarf, sprach sie, ohne mich anzusehen.
»Schon gut, ich gebe mir nicht mehr die Schuld für das, was meinem Bruder passiert ist«, sagte sie. »Ich gebe der ganzen Welt die Schuld!«
Apathie lag in Emmas Stimme, und ich fand, dass diese Stimmung nur allzu gut zu diesem Ort passte. Hier war kein Platz für irgendwelche Gefühle. Die Menschen, die wir sahen, waren meistens Frauen und Kinder. Die Kinder spielten im Dreck und die Frauen kümmerten sich um Kochfeuer oder hängten zerlumpte Kleidungsstücke an Wäscheleinen. Niemand grüßte uns, niemand lächelte. Ich fragte Emma, warum anscheinend keiner sie kannte, und sie sagte, dass die Menschen in ihrem Dorf kämen und gingen, sie seien immer auf der Suche nach Wasser und Nahrung.
»Es sieht so aus, als ob alle, die ich gekannt habe, nicht mehr da sind«, sagte sie. »Wahrscheinlich tot. Dann bin ich jetzt eine Fremde, egal, wohin ich komme.«
Unter einem niedrigen Vordach aus Wellblech blieben wir stehen. Eine Blumenampel hing daran, in der Kräuter wuchsen, die ich nicht kannte. Die Hütte stützte sich seitlich auf Holzpfähle wie ein Betrunkener, der im Vornüberfallen innehält. Irgendwie sah das Haus komisch aus, so ähnlich vielleicht, wie man es in einem Cartoon zeichnen und mit einer witzigen Stimme versehen würde. Fenster waren keine mehr da, und die Rückwand hatte ein großes Loch, durch das jetzt Sand hereinwehte. Drinnen, im Dunkeln, lagen Konservendosen auf dem Fußboden, ein paar Spielsachen und die Schuhe einer Frau.
Unter dem Vordach neben der Blumenampel sah ich ein Schwalbennest, das aus Schlamm und Speichel gebaut war. Ich ahnte, dass hier die Stelle war, wo Look und Leave ihre Winter verbrachten. Gern hätte ich Emma von meiner Entdeckung erzählt, aber ihr Schweigen hielt mich zurück. Sie stand schwer auf ihren Stock gestützt und blickte lange in die Dunkelheit des Hauses. Da begriff ich, dass diese Ruine ihr Zuhause gewesen war, all das, was von ihrer Familie noch existierte.
»Können wir einfach mal eine Weile hier stehen bleiben?«
Emma stand reglos da, den Rücken zu mir gewandt. Ich setzte mich auf die stählernen Reste eines Flakgeschützes, das halb in den Sand gegraben war, um als Sitz zu dienen. Hitze und Fliegen verschmolzen zu einer Art juckendem Summen. Ich konnte es nur ertragen, weil Emma es konnte. Sie schwieg lange Zeit.
Irgendwann stand ich auf.
»Emma?«, sagte ich, da drehte sie sich um. In ihrem Blick lag helle Wut, und ich spürte, dass diese Wut gegen sie selbst gerichtet war.
»Ich habe die Chance gehabt, die Dinge zu ändern …«
Emma betrachtete die Trümmer und Ruinen, die von ihrem Dorf übrig geblieben waren.
»Ich hätte das Gold aus Langjoskull mitnehmen können. Becher, Teller, Messer, Löffel. Ich habe die Gelegenheit nicht genutzt. Schulen hätte ich bauen können und Brunnen bohren lassen, ich hätte Ärzte bezahlen können. Ja! Jetzt, wo ich hier bin, erkenne ich
Weitere Kostenlose Bücher