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Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Titel: Das Vermaechtnis des Will Wolfkin
Autoren: Steven Knight
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die schon einmal einen Engel gesehen hatte, aber nicht darüber sprach, Schwester Ubo, deren Stimme sich wie ein Reibeisen anhörte, und die Wichtigste von allen: Schwester Mary.
    Oh, wie liebte ich Schwester Mary! Sie war meine tägliche Betreuerin, ihre sanften Hände wischten mir Milch vom Mund, und ihre weiche Taille wippte gegen meine Knie, während sie diese kleine Melodie summte, die ich sonst nirgendwo gehört habe. Wer weiß, vielleicht hat sie sie selbst erfunden. Schwester Mary war wie ein zierlicher Fink mit kleinen runden Brillengläsern.
    Eines Tages im Sommer stieß sie weit das Fenster auf und zeigte auf einen Baum, dessen Blätter im leichten Wind raschelten. »Schau doch mal, Toby! Die Sonne auf den Unterseiten der Blätter. Ist das nicht wie Feuer?«
    »Ja«, wollte ich schreien, »genau so sieht es aus! Wie Feuer! Und, Schwester Mary, der Mond, wenn der Mond nur halb am Himmel steht, sieht er aus wie ein griesgrämiger Opa, der gerade in eine Zitrone beißt, und … und … und …«
    Aber natürlich konnte ich nichts von all dem schreien. Ich konnte nicht einen einzigen Ton hervorbringen. Es war eine einseitige Unterhaltung, und so konnte ich nur hoffen, dass Schwester Mary aussprechen würde, was ich dachte. Und im Lauf der Jahre gelang ihr das auch meistens.
    Schwester Mary war zuständig für meinen Unterricht, der im Wesentlichen darin bestand, dass sie mich fernsehen ließ und dass sie mir Bücher vorlas, die sie aus der örtlichen Leihbücherei holte. Da sich außer ihr niemand darum kümmerte, was ich lernte, machte Schwester Mary es einfach so, wie sie es für richtig hielt. Wir fingen mit Kinderreimen an, als ich zwei Jahre alt war, gingen zu Kinder- und Märchenbüchern über, dann kamen Gedichte an die Reihe, geschichtliche und naturwissenschaftliche Bücher. Ich liebte den Geruch, wenn Schwester Mary die Seiten aufschlug, besonders den der ganz alten wissenschaftlichen Werke, die seit Jahren niemand mehr geöffnet hatte. Mein Geruchssinn war fast genauso gut ausgebildet wie meine Vorstellungskraft. Schwester Mary erkannte schnell, dass ich den Geruch von modrigem Papier mochte, und so schleppte sie immer wieder dicke, verstaubte Lehrbücher aus der (kaum frequentierten) Wissenschaftsabteilung an, nur damit ich die Seiten riechen konnte, während sie mir mit leiser Stimme daraus vorlas.
    Mit der Zeit entwickelte ich auf diese Weise ein wenig Interesse für Physik, was wiederum Schwester Mary dazu brachte, mir von Stephen Hawking zu erzählen. Das sei ein Mann, sagte sie, der wie ich an einen Rollstuhl gefesselt war, und dennoch sei er zweifellos der intelligenteste Mensch der Welt. Als sie merkte, wie sehr mich das beeindruckte, las sie mir von da an jeden Tag mindestens einen Abschnitt aus seinen Büchern über Physik vor, auch wenn die nicht besonders interessant rochen – sie waren zu neu. Ich verstand natürlich längst nicht alles, aber die große Linie seiner Ideen nahm ich trotzdem auf. Stephen Hawking sagt, dass die Zeit nicht linear verlaufe, dass das Universum gekrümmt und nichts wirklich real oder fest sei – und das bedeutet, absolut alles ist möglich. Wenn man an den Rollstuhl gefesselt ist, kann das eine sehr tröstliche Vorstellung sein.
    Im Kloster gab es auch einen Kater, ein zappeliges schwarzes Ding namens Shipley, dem es oft gelang, sich in mein Zimmer zu schleichen, wenn niemand da war. Im Lauf der Jahre kam ich zu der Überzeugung, dass ich eine Art gefühlte Verbindung zu dieser scheuen kleinen Katze hatte, und so wurde Shipley mein bester Freund. Ich spürte schon immer ein paar Minuten vorher, dass er gleich kommen und mich besuchen werde, und wenn er dann mit seiner rauen Zunge über meine Hand leckte, war mir, als wolle er eine Botschaft auf meiner Haut hinterlassen, die ich lesen sollte (die merkwürdigsten Dinge können einem normal erscheinen, wenn man sie von Geburt an nicht anders kennt). Shipleys Botschaften waren manchmal ganz praktische Warnungen, zum Beispiel: »Schwester Ubo im Anmarsch! Will sehen, ob sie irgendwo Unordnung entdeckt, über die sie sich aufregen könnte!« In diesem Fall machte ich mich dann sozusagen ein bisschen kleiner, und kurz darauf hörte ich unweigerlich Schwester Ubos Sandalen über die Steinfliesen auf dem Gang schlappen: das gewohnte Geräusch, wenn sie auf Kriegspfad war. Andere Botschaften von Shipley brachten mich zum Lachen, wie zum Beispiel damals, als er mir erzählte, er habe Pater Reece unter seinen
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